Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
fest.
    »Hör endlich auf, mich zu belauern und hinter mir herzuschleichen! Lass mich in Ruhe!« Das klang gar nicht nach ängstlichem alten Mann. Seine Stimme war wie ein Grollen, tief und kräftig. Abrupt schwang er wieder herum und setzte seinen Weg fort. Noch fünf Meter bis zur Tür. Ich hatte nicht viel Zeit, verblüfft zu sein. Ich überholte ihn und stellte mich zwischen ihn und die Tür.
    »Rubio – ich bin Gil. Wir müssen reden.«
    »Ich muss gar nichts«, blaffte er mich an.
    »Hast du nicht gehört, was mit Barb passiert ist?«
    »Wer nicht? Und? Was schert es mich?«
    »Ich glaube, dass einer von uns sie getötet hat. Ich denke, es war Maurice. Er hat mich auch angegriffen und mi r …«
    »Na, da haben wir aber einen ganz schlauen Neuen in der Stadt«, unterbrach er mich grob. »Also noch mal extra für dich zum Mitschreiben: Was … schert … es … mich? Von mir aus könnt ihr euch gegenseitig zum Frühstück verspeisen.«
    Nun, senile Leute hörten sich anders an.
    »Ich glaube, das ist wohl eher dein Hobby«, erwiderte ich scharf. »Du hast auch schon mal gegen den Kodex verstoßen, nicht wahr? Warum hätte dich Barb sonst ›Kehlenzerfetzer‹ genannt? Hast du … wirklich einen umgebracht?«
    Er überraschte mich mit einem rasselnden, sarkastischen Lachen, das in ein Husten überging. »Einen?«, fragte er spöttisch. »Dutzende! Und wenn du mir nicht aus dem Weg gehst, kannst du gerne der Nächste sein.«
    Er machte Anstalten weiterzufahren, aber ich tat einen Schritt zur Seite und vertrat ihm den Weg. Es machte mich nervös, aber es war die einzige Möglichkeit.
    »Ich will ein paar Dinge verstehen«, sagte ich.
    »Verstehen!« Er spuckte das Wort beinahe verächtlich aus. Doch dabei legte er den Kopf in den Nacken, als würde er auf mich herabsehen. »Dein Akzent gefällt mir nicht. Und deine Visage noch viel weniger. Ausländer, was? Bist du illegal hier? Du wirst ziemlich nervös, wenn ein Polizist um die Ecke biegt.«
    Ich dachte, ich wäre in diesem Spiel der Beobachter, aber offenbar hatte er von seinem Fenster eine ebenso gute Sicht auf mich. Ich war tatsächlich einmal in den U-Bahn-Schacht gegangen, als zwei Uniformierte den Platz überquert hatten.
    »Und wenn schon«, sagte ich. »Spielt es noch eine Rolle, ob ich einen gültigen Pass habe? Für mich ist das normale Leben ohnehin vorbei.«
    Rubio kniff die Augen zusammen. Ich wusste, dass er sehr gut sah. Aber dennoch wirkte sein Blick unscharf, als würde er nicht nur mich betrachten, sondern etwas neben mir, hinter und vor mir.
    »›Mein Leben ist vorbei‹«, äffte er mich mit betont weinerlicher Stimme nach. »Selbstmitleid ist ein hübsche, anschmiegsame Geliebte. Tu mir nur den Gefallen und fang hier nicht an zu heulen.«
    Ruhig bleiben , befahl ich mir. Er will dich nur provozieren.
    Jetzt sah er richtig genervt aus. »Und jetzt verschwinde einfach und genieß die Zeit, in der du noch an einen Menschen erinnerst.«
    »Ich bin ein Mensch!«, brauste ich auf. »Und ich werde nie etwas anderes sein.«
    »Das sagen sie alle«, meinte Rubio trocken. »Und dann fangen sie an wie du: Erst tun sie sich erbärmlich leid, schieben die Schuld an ihrem Los auf ihre Gabe. Dann nutzen sie ihre neuen Talente, weil sie nun mal da sind – natürlich nur, um mit diesem schlimmen Los fertig zu werden. Dann stellen sie fest, dass es im Grunde gar nicht so schlecht ist, den Normalsterblichen überlegen zu sein: schneller zu sein, besser zu riechen, über die Sinne von Raubtieren zu verfügen. Es macht sogar Spaß und verleiht ein Gefühl von Macht. Dann werdet ihr alle größenwahnsinnig und nutzt die Gabe nur für euch und eure kleinen, erbärmlichen Wünsche. Und am Ende spielen die Wünsche auch keine Rolle mehr. Dann gilt nur noch das Gesetz der Jagd. Um etwas anderes schert ihr euch alle nicht.«
    Ich gab es nicht gerne zu, aber der Alte beeindruckte mich. Und sei es nur deswegen, weil er gerade ein ziemlich treffendes Bild von Gizmo gezeichnet hatte. »Ihr bedient euch der Instinkte wie der Zauberschüler seiner Magie, die er noch nicht beherrscht und deren Gesetze und Sinn er nicht durchschaut«, fuhr er noch zorniger fort. »Hemmungslos und gierig. Und ihr verfallt euren Instinkten ganz und gar. Wunderbare Parallele zu Alkoholikern, findest du nicht?«
    »Ich bin meinem Schatten nicht verfallen«, sagte ich kühl. »Ich nutze meine Fähigkeiten nicht, um Radios zu klauen oder Hunde zu jagen. Ich will den Schatten nicht und wollte

Weitere Kostenlose Bücher