Schattenauge
und richtete sich zu einer drohenden, halb geduckten Haltung auf. Noch kein Grund, sich Sorgen zu machen. Nummer 11 konnte einschüchternd wirken, aber im Grunde kämpfte er nicht gern.
»Was hast du hier zu suchen?«, rief ich ihm zu.
Er stopfte hastig den Turnschuh in eine seiner Taschen und starrte mich an. Seine Augen waren gelb, die Pupillen weiteten sich bei meinem Anblick. Also war er angespannt und aggressiv. Und ich war nicht sicher, ob er mich verstand.
»Hast du keine Angst vor Maurice?«, setzte ich hinzu.
Endlich glühte ein Funke des Erkennens auf. »Mauriss?«, nuschelte er, als wäre seine Zunge ihm zu groß. »Der’s weg.«
Ich runzelte die Stirn. »Weg?«
Hat Rubio Recht? Springen die Ratten vom sinkenden Schiff? Aber warum sollte ausgerechnet der unbesiegbare Maurice die Stadt verlassen?
Nummer 11 duckte sich noch tiefer und funkelte mich an. Seine Nasenflügel bebten. »Riechs du’s nich?«, sagte er mit heiserer, beinahe fauchender Stimme. »Riecht anders hier. Leer.«
Ich nahm allein das betäubende, widerlich verlockende Aroma von Taubenfleisch wahr und den ekligen Dunst von Nummer 11, eine Mischung aus Gereiztheit und Eroberungsdrang. Er starrte mir in die Augen und gab ein verächtliches Fauchen von sich. Langsam kam er einen Schritt auf mich zu, dann noch einen. Jetzt ging es nur noch darum, dass er mich aus dem, was wohl sein neues Revier werden sollte, vertreiben wollte. Noch lag keine wirkliche Angriffslust in seinen Schritten, nur eine Drohung. Ging ich zurück und wich dem Blickkontakt aus, würde er mich gehen lassen. Aber heute dachte ich nicht daran. Immerhin redete er mit mir – selten genug in unserem Verein. Und einen Versuch war es wert. Ich fixierte ihn weiter, obwohl ich ihn damit provozierte.
»Marcus?«, fragte ich auf gut Glück. Keine Reaktion. »Kemal?« Genauso gut hätte ich ihm die Wochentage vorbeten können. Letzter Versuch, dann musste ich sehen, dass ich mich zurückzog. »Julian?«
Nummer 11 blinzelte und blieb ruckartig stehen. Verwirrung spiegelte sich in seiner Miene. Ich hätte am liebsten einen Triumphschrei ausgestoßen. Treffer! Rubio hatte nicht gelogen.
»Julian!«, rief ich lauter. »Du warst Julian. Der Schauspieler. Du hast Hamlet gespielt. Ein Stück von Shakespeare. Am Stadttheater. Sein oder Nichtsein … Erinnerst du dich daran?«
Es war gespenstisch. Es war, als würde jemand, eine Person, in die Menschenhülle zurückgleiten. Er richtete sich auf, das Gesicht vor Anstrengung so verzerrt, als würde sich die Erinnerung mit der Spitzhacke ihren Weg durch seine Hirnwindungen schlagen.
»Shakesbiiir«, nuschelte er so undeutlich, als hätte er seit Ewigkeiten nicht mehr gesprochen. Und dann überraschte er mich maßlos, als er Luft holte und mit ganz anderer Stimme und gestochen klaren Worten eine Textzeile zitierte: » Lasst das Handeln zu den Worten und die Worte zum Handeln passen, mit der einzigen Vorsicht, dass ihr nie über die Grenzen des Natürlichen hinausgeht .«
In den Augenblicken des Schweigens, die dieser Ansprache folgten, mussten wir uns ziemlich ähnlich sehen: Beide verblüfft und mit offenem Mund.
Ich fing mich als Erster wieder. »Rubio hat dich auf der Bühne gesehen, nicht wahr? Kanntet ihr euch gut?«
»Der Seher?«, fragte er gedehnt.
Ich nickte, als würde ich wissen, wovon ich sprach. Seher. Interessant. »Er hat jemanden von euch ermordet. Wen, Julian?«
Wieder hatte sein Name eine elektrisierende Wirkung auf ihn. »Gerichtet hat er ihn«, murmelte er. »Der Henker. Den Polizisten. Hat gegen … Rubios Kodex verstoßen.«
Rubios Kodex? Plötzlich war meine Kehle wie ausgedörrt.
» Das unentdeckte Land, von des Bezirk kein Wanderer wiederkehrt «, rezitierte Julian und lachte. Dann erlosch sein Lachen und er sah mich an, als hätte er mich eben erst entdeckt. »Mein Land«, knurrte er – und schnellte los. Ohne Vorwarnung, ohne weitere Drohgebärde, ohne eine Chance für mich, ihm friedlich aus dem Weg zu gehen. Hinterhältiger, mieser Idiot!
Es war zu spät für eine Flucht und doppelt zu spät für beruhigende Worte. Und ehrlich gesagt hatte ich genug – ich war hungrig und müde und meine Nerven lagen blank. Es war eines der wenigen Male, bei denen ich mich nicht dagegen wehrte. Vielleicht auch, weil ich wusste, dass ich mit meiner Verletzung sonst nicht gegen Julian bestehen könnte. Ich bekam noch mit, wie sich meine Finger krümmten und ich mich zum Sprung duckte.
Im nächsten
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