Schattenauge
unter der Anspannung.
»Eins …«, zählte er mit ruhiger Stimme. »Zwe i …«
Zoë holte krampfhaft Luft.
»Drei!«
Sie wusste nicht, wie sie es fertiggebracht hatte. Es war, als hätte sie wieder einen Zeitsprung gemacht. Zwei, drei Sekunden nur. Sie musste sich ein Stück gedreht haben, denn nun lag ihr Arm tatsächlich um seinen Nacken und sein Haar klebte an ihrer tränenfeuchten Wange. Der French-Duft war so stark, dass sie den Lack- und Rostgeruch der Brücke nicht mehr wahrnahm.
»Gut! Und jetzt der andere Arm«, flüsterte er. »Halt dich so fest, wie du kannst. Eins… zwe i …«
Es ging schnell. Vor Überraschung konnte sie nicht einmal schreien. Sie spürte nur, wie sie losließ und sich wie im Reflex an ihn klammerte. Wie sie beide kippten und French sich streckte und sie mit einem Ruck zur Seite zog. Dann ein metallischer Schlag, sie kam hart mit den Knien auf. Wieder trudelten zwei Sekunden ins Nichts. Dann war unter ihr Metallboden, halb saßen, halb lagen sie, und French hielt sie immer noch umfangen.
»Alles in Ordnung. Wir sind auf der Plattform«, sagte er beruhigend. »Hier ist genug Platz. Atme durch. Und wenn du die Augen aufmachst, schau nur nach oben, nicht nach unten.«
Ihr Kopf lag an seinem Schlüsselbein und ihre Arme umklammerten ihn ohne ihr Zutun, aber sie zitterten vor Erschöpfung, als hätte sie eine viel zu schwere Last getragen. Vorsichtig blickte sie hoch. Beinahe war sie überrascht. Sie befanden sich nicht so weit oben, wie sie angenommen hatte. Über ihnen strebte das stählerne Netz, das die Brücke hielt, noch unendlich weit hoch in den Himmel. Sie mussten sich im unteren Drittel befinden, dort, wo es flache Querverstrebungen gab, die die Brückenaufhängung stabilisierten.
»Ich … bin hier nicht raufgeklettert«, sagte Zoë kläglich.
»Oh doch, das bist du. Du weißt es nur nicht mehr.«
Vorsichtig blickte sie ihn an. Blank liegende Wahrnehmung: Trotz der Dunkelheit erkannte sie jedes Detail.
French war blass, aber er lächelte ihr zu. Trotzdem schauderte sie. Seine Augen waren braun und die Pupillen riesig, zu dunkel und … oval! Zum ersten Mal sah sie, dass sie tatsächlich enger und weiter wurden, obwohl das Licht sich nicht veränderte. Und am Grund dieser Dunkelheit lag etwas Schillerndes, ein Glanz wie von Goldpapier. Ein Bild regte sich in ihrem Gedächtnis. Eine unangenehme Erinnerung an gelbe Augen, aber sie kam nicht an die Oberfläche.
»Ist dir kalt?«, fragte er besorgt. Seine Hand strich über die Gänsehaut an ihrem Oberarm. »Blöde Frage«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr und richtete sich halb auf.
Bisher hatte Zoë geglaubt, das Schlimmste überstanden zu haben. Aber nun, als sein Griff sich lockerte, schwappte die Panik wieder hoch. Zoë klammerte sich noch fester an ihn und brach wieder in Tränen aus. Irgendwo, im hintersten Winkel ihres Bewusstseins, saß eine Zoë, die sich gerade in Grund und Boden schämte für das erbärmliche Bild, das sie bot: ein Mädchen, das sich vor Angst wimmernd und Rotz und Wasser heulend an einen Fremden klammerte, dem es erst gestern eine Abfuhr erteilt hatte.
French spannte vorsichtig die Muskeln an, bis er auf die Knie kam. Sein verletztes Bein musste schmerzen, aber er ließ sich nichts anmerken. Er schob das Bein sogar zur Seite, setzte sich wieder und zog Zoë zu sich heran. Ehe sie es sich versah, saß sie zwischen seinen Beinen, die rechts und links von ihr eine Barriere gegen die Tiefe bildeten.
»Besser?«, fragte er. Sie schniefte und nickte verlegen.
»Ich lasse dich nur kurz los, in Ordnung? Aber du kannst nicht wegrutschen, ich halte dich mit den Knien.«
Es war nur der allerletzte Rest von Stolz, der sie widerwillig nicken ließ. French zog vorsichtig seine Arme weg und streckte sich. Während er sich die Jacke auszog, gab er sich sichtlich Mühe, keine hektischen Bewegungen zu machen. Gleich darauf hüllte hautwarmes Fleece Zoë ein. Sie musste sich halb von French wegdrehen, um in die Ärmel zu schlüpfen. Allerdings war es ihr ganz recht, dass er ihr nicht mehr ins Gesicht sehen konnte. »Wo sind meine eigenen Sachen?«, murmelte sie. »Mein Hand y …«
»Die hast du unterwegs verloren. Wir finden sie bestimmt wieder.« Er räusperte sich und fuhr leiser fort: »Ich weiß, wie dir zumute ist. Du denkst, du bist verrückt. Jeder stirbt fast vor Angst, wenn er so was erlebt. Aber es gibt eine Erklärung. Und es ist nicht deine Schuld. Es trifft uns, ohne dass wir
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