Schattenauge
sagte sie heiser.
»Wir schaffen es auch ohne Leiter«, sagte ich so beruhigend wie möglich. »Es ist gar nicht so weit bis zum Boden. Ich bringe dich runter.«
»Und wie zum Teufel soll das gehen?«, fuhr sie mich verzweifelt an. Ich rutschte ein Stück zur Seite, bis ich ihr ins Gesicht sehen konnte. Kurz vor dem nächsten Switch. Ihre Augen waren nicht mehr grau, sondern ganz dunkel – mit einem rötlich goldenen Schimmer. Aber sie war ansprechbar, denn als ich sie bei den Schultern fasste, wehrte sie sich nicht.
»Es sind nur ein paar Meter«, sagte ich eindringlich. »Ich trage dich. Du musst nur die Augen zumachen und dich festhalten. Klar?«
Sie traute mir immer noch nicht. Ich konnte ihren Argwohn spüren. Die Situation konnte jeden Moment kippen, und ich wollte mir nicht vorstellen, was dann passieren würde. Also ließ ich sie los und stand auf, obwohl ich wusste, dass ich sie damit in die Schreckstarre jagte.
»In den Verladehallen schleppe ich jeden Tag Kisten durch die Gegend, die doppelt so schwer sind wie du«, sagte ich. »Und wie du dir vorstellen kannst, klettere ich weitaus besser, als ein normaler Mensch es je könnte. Und – ich habe keine Höhenangst.«
Zum Beweis stand ich auf, streckte die Arme zu den Seiten aus und balancierte ganz am Rand der Plattform im Wind, der an meinen Haaren riss.
Sie rang immer noch mit sich. »Du arbeitest auf dem Markt?«, fragte sie leise.
»Klar«, erwiderte ich. »Auch wenn ein ganz normaler Job nicht in deine Straßendealerschublade passt.«
Zu meiner Überraschung errötete sie.
»Das ist schon in Ordnung«, sagte ich. »Ich nehme es dir nicht übel.«
Sie betrachtete mich nachdenklich. »Wie heißt du denn wirklich?«
Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal jemandem meinen Namen genannt hatte. Ich zögerte, aber dann wurde mir klar, dass sie tatsächlich überhaupt nichts über mich wusste.
»Gil. Gil … Aceval.«
»Das ist kein algerischer Name.«
»Nein, mein Vater war Franzose. Aber meine Mutter war Maghrebinerin, sie gehörte zum angesehenen Stamm der Ouled Alaar Khaled. Unsere Heimat liegt in den algerischen Hochebenen, an der Schnittstelle zwischen Norden und Süden, bei den Beduinen. Als Kind lebte ich in zwei Welten – in Algier, aber ein paar Jahre auch in den Nomadenzelten meiner Verwandten.«
Plötzlich war mir, als könnte ich den Staub der Wüste riechen, die Ziegenmilch, das Leder im Zelt meiner Großmutter. Das Heimweh war wie eine schneidende, heiße Welle. Ich sah mich über den Märtyrerplatz in Algier schlendern und erinnerte mich an die Kinderspiele in den Altstadtgässchen, auf den schief getretenen Treppen in den Rues de la Casbah .
Das Handy vibrierte ungeduldig. Ohne hinzusehen drückte ich Gizmos Anruf weg.
»Zeit zu gehen«, sagte ich sanft zu Zoë. »Also?«
Sie rang sichtlich mit sich, doch zu meiner unendlichen Erleichterung flüsterte sie schließlich: »Okay.«
Unten floss der Verkehr mit großen Lücken dahin. Ich musste das Intervall abpassen, in dem wir unbemerkt hinter einem der breiten Hauptpfeiler auf den Fußgängerweg springen konnten.
Zoë erwürgte mich fast, als ich uns beide über den Rand der Plattform bugsierte. Mein Gürtel, den ich um uns beide geschlungen hatte, schnitt unter meinen Rippen ein. Zoës Keuchen hallte in meinem Ohr, aber sie hielt sich fest, während ich nach den Streben griff und mit meinen Füßen Halt suchte. Es ging einfacher, als ich gedacht hatte, obwohl mein Oberschenkel schmerzte wie die Hölle und Zoës Beine gegen meine Rippen drückten. Acht Meter, schätzte ich. Dann überließ ich einfach meinem Körper die Führung. Sosehr ich die Instinkte hasste, manchmal waren sie wirklich nützlich.
Ich hangelte das letzte Stück besonders vorsichtig, nutzte den Sichtschutz der Streben. Das war ein Vorteil: Wie oft kamen wir mit unseren Aktionen unbemerkt durch, weil die Leute nie nach oben, links oder rechts blickten?
Endlich berührten meine Füße den rauen Boden. Vibrationen flossen wie ein Informationsstrom durch die Sohlen: Autos, Schritte, die Bewegungen der Brückenaufhängung im Wind. »Mach die Augen auf, wir haben es geschafft«, sagte ich. Ich öffnete den Gürtel und Zoë knickte ein, als wären ihre Knie aus Gummi. Doch als ich sie stützen wollte, schüttelte sie den Kopf.
»Geht schon«, meinte sie atemlos und verblüffte mich ein weiteres Mal mit ihrer trockenen Sachlichkeit. »Wo parkt dein Freund?«
Gizmo hatte die Motorhaube
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