Schattenauge
diente. Irves hatte mir erzählt, dass manchmal Independent-Bands vor dem Gebäude spielten, und irgendwo im Keller gab es auch einen festen Club. Jetzt im März war das Gelände dagegen fast leer.
Fast. Sechs … fünf … vier …
Eine Gestalt mit wehendem schwarzen Haar in weißer Jacke. Eingefroren in der Momentaufnahme eines Sprints. Mir wurde heiß vor Schreck. Zoë! Was macht sie ausgerechnet dort?
Die Frau neben mir sagte irgendetwas, aber ich hörte ihr gar nicht zu.
Drei … zwei …
Hinter Zoë lief Julian. Und der Taubenfresser vom Campus. Beide am völlig falschen Ort und in schönster Eintracht. Aber das war noch lange nicht das Schlimmste: An der Fassade eines Nebengebäudes, für Zoë nicht sichtbar, noch einer von uns! Eindeutig in Angriffsposition, katzenhaft an das Gemäuer geklammert und zum Sprung bereit. Der Wrestler. Verdammt. Der hatte gerade noch fehlt. Warum hatte ich Zoë heute allein gelassen? Zu spät. Jetzt ging es nur noch um Schadensbegrenzung.
… eins.
Bild aktualisiert.
Leerer Platz.
Ich hoffte, dass immerhin ein Gesetz noch Gültigkeit hatte: Die Jagd führte immer bis zur Hälfte der Brücke. Ehrwürdige Tradition der Panthera in unserer Stadt , dachte ich bitter. Aber gut, wenn sie sie wirklich zur Brücke jagten, dann hatte ich eine Chance, wenigstens das Schlimmste zu verhindern.
Ich brauchte gefühlte vier Stunden. In Wirklichkeit war ich nur wenige Minuten unterwegs. Ich hastete die U-Bahn-Treppen hinunter und erwischte sofort die richtige Bahn. Fünf Minuten später war ich an der Haltestelle Gerichtsgebäude – quasi in Sichtweite der Brücke. Ein Auto hupte, als ich im Hinkesprint bei Rot über die Straße rannte.
Gutes Timing. Ich sah Zoë, wie sie aus der Seitengasse kam, die wir den »Tunnel« nannten – ein Schleichweg zwischen verlassenen Hinterhöfen auf der schäbigen Rückseite der Hochglanzhäuser mit den Spiegelfassaden. Ab hier wurde es gefährlich. Bisher hatten sie Zoë lediglich durch Seitenstraßen und Hinterhöfe gehetzt, nun aber ging es auf befahrenes Gelände – der letzte Straßenabschnitt vor der Brücke, das Nadelöhr. Fünfzig Meter noch bis zur Brücke. Solange sie auf dem kaum benutzten Fußgängerweg blie b …
Mitten in diesem Gedanken sah ich den Wrestler und Julian heranstürmen. Sie trennten sich wie auf einen geheimen Befehl. Zwei Raubtiere, die ihren Spaß hatten. Von meiner Position aus konnte ich sehen, wie Zoë zu Julian blickte. Gehetzt, mit einem seltsam leeren Gesichtsausdruck, der mir zeigte, dass sie nicht bei sich war. Ein Blackout spiegelte sich in ihren Zügen. Sie war schon über die Grenze gegangen. Es schmerzte mich, sie so zu sehen.
Julians Haar wallte, seine katzenhaften Bewegungen hatten eine tödliche Präzision. Und dann … sprang er an einer Wand hoch, stieß sich ab und … sprang sie von der Seite an.
Mir blieb fast das Herz stehen. Ein Lkw wich laut hupend mit einem Schlenker aus, als Zoë auf die Straße sprang. Sie war jenseits von allem, ich konnte es an ihren Bewegungen sehen. All die Energie und die Geschmeidigkeit, die bisher noch in ihr verborgen gewesen waren, schienen freigesetzt.
Die Wut schäumte in mir hoch. Sie trieben sie absichtlich auf die Straße! Sie nehmen in Kauf, dass sie umkommt!
Das Rot verschwand mit einem Augenzwinkern aus meiner Wahrnehmung, meine Kiefermuskeln schmerzten, so fest biss ich die Zähne zusammen, um bei mir zu bleiben. Nicht abdriften!
Auf der mittleren Spur sprintend, überholte Zoë zwei Autos und ein Motorrad, das gefährlich zu schlenkern begann, als der Fahrer erschrocken den Lenker herumriss. Hupen und Bremsenquietschen setzten ein. Ich startete durch. Der Lärm war ohrenbetäubend und der Abgasgeruch unerträglich stark. Ich passte eine Lücke zwischen zwei Autos ab und glitt so schnell in die Mitte der Straße, dass der Autofahrer, der sich nach Zoë umsah, mich nicht bemerkte. Zoë lief mir entgegen, aber noch hatte sie mich nicht entdeckt. Ich duckte mich auf der Mittelspur. Das Hupen, das Zoë galt, föhnte mich fast von der Straße.
Dann sah ich eine Lücke – ein Taxi bremste ab, das war Zoës Chance. Ich lief los, entgegengesetzt zum heranbrausenden Strom – direkt auf Zoë zu. Sie war blind vor Panik. Umso stärker war der Effekt, als sie mich sah.
»Zoë!«, brüllte ich, obwohl ich wusste, dass sie mich im Moment weder hörte noch verstand. »Sofort runter von der Straße!«
Ich machte einen Schlenker, als wollte ich sie
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