Schattenauge
bereits. Irgendwann würde sie sich bewegen müssen. Sie würde den Halt verlieren. Und fallen. Im Augenblick hielt ihr verkrampfter Körper sie noch an Ort und Stelle und umhüllte das schwarze Loch in ihrer Brust, das Vakuum des Schocks, das alles einzusaugen drohte.
Hilfe rufen! Handy! Wo ist mein Handy?
Danach greifen ging auf gar keinen Fall. Also blieb nur nachsehen. Zoë schluckte und schielte unendlich vorsichtig zu ihrer Jackentasche. Nur um festzustellen, dass sie keinen Blazer und auch kein Oberteil mehr trug. Sondern nur noch das bauchfreie Top und ihre schwarze Hose. Und auch dieses Mal war sie barfuß. Irgendwo in den Verstrebungen über ihr erzeugte der Wind ein Heulen, das ihr angstvolles Wimmern höhnisch nachzuäffen schien. Mitten in der Nacht halb nackt von der Brücke gestürzt, schoss es ihr durch den Kopf. Keine Chance, Hilfe zu rufen. Die Polizei wird sagen, es war Selbstmord. Mama wird verrückt werden vor Kumme r …
Sie schrie auf, als sie eine winzige Erschütterung spürte. Es war nicht der Wind, es war ein Schlag gegen das Metall. Sie versuchte zu blinzeln, aber sie brachte es nicht mehr fertig, die Augen zu öffnen.
»Zoë?«
Die Stimme war kaum mehr als ein Flüstern im Rauschen des Windes.
»Hier!«, brachte sie mit erstickter Stimme hervor. »Hilfe!«
Dann brach sie vor Erleichterung in Tränen aus.
Wieder eine Erschütterung, ein klickendes Geräusch, als Metall (ein Reißverschluss?) gegen eine der Streben schlug.
»Keine Panik! Bleib ruhig, mach bloß keine schnellen Bewegungen.«
Irves? War das Irves? Nein, die Stimme klang anders. Aber sie konnte die Augen nicht öffnen.
»Dreh dich einfach nach links, dann kannst du meine Hand nehmen.«
»Was?«, stammelte sie entsetzt. »Nein!«
French! Es war tatsächlich dieser zwielichtige Typ. Jetzt verstand sie überhaupt nichts mehr.
»Schau über deine Schulter, Zoë. Ich bin nur einen halben Meter hinter dir.« Seine Stimme klang so anders als sonst, so sanft. »Es ist nur ein kleiner Schritt, links hinter dir ist eine Plattform.«
»Nein!«, schrie sie. »Spinnst du? Ich habe eine Scheißangst vor der Höhe! Sobald ich die Augen aufmache oder mich bewege, falle ich!«
Immerhin eine nützliche Erkenntnis: Solange sie wütend war, konnte sie die Panik unterdrücken.
Von French kam keine Antwort. Augenblicklich stieg in ihr die Angst hoch, dass sie sich seine Gegenwart nur eingebildet haben könnte. Doch dann hörte sie, wie er die Luft einzog. »Gut, bleib, wo du bist. Erschrick nicht. Ich klettere zu dir rüber. Halt dich fest, ja?«
Um ein Haar hätte sie ihn wieder angeschrien, dass sie ja verdammt noch mal ohnehin keine andere Wahl hatte, da spürte sie schon die Erschütterung. Diesmal war es so schlimm, dass sie bereits zu fallen glaubte. Sie keuchte vor Entsetzen auf, aber dann lag auf einmal sein Arm um ihre Taille und seine Brust drückte gegen ihren Rücken.
»Keine Angst«, hörte sie seine Stimme direkt an ihrem Ohr. »Ich hab dich.«
In ihrer Nase fing sich der Geruch seiner Haut. Irves roch nach Ambra, Leder und Discoluft. Bei French dagegen war es eine sehr viel irritierendere Mischung – Wüste und Sandelholz und noch einige andere Facetten, die sie nicht einordnen konnte. Eine davon war Sorge. Eine andere die Kühle der Konzentration.
»Kannst du einen Schritt machen, wenn ich dich halte?«, fragte er leise. Sein Atem traf warm auf ihre Wange. Anders als sie zitterte er nicht. Seine Ruhe schüchterte sie ein. Auf seine Fragen konnte sie nur stumm den Kopf schütteln.
Er zögerte und schien sich umzusehen, als müsste er sich einen Plan zurechtlegen. »Traust du dich, wenigstens die Strebe loszulassen?«
»Nein!«, stieß sie hervor.
»Aber ich halte dich fest, es kann nichts passieren. Wir müssen nur eine Schrittlänge bis zur Plattform überbrücken. Dort können wir uns hinsetzen und sind erst einmal in Sicherheit.«
»Wir werden abstürzen«, flüsterte sie. »Beide. Du kannst mich unmöglich halten.«
»Doch, kann ich«, sagte er mit einer Bestimmtheit, die ihn noch fremder erscheinen ließ. »Und ich lasse dich nicht fallen, versprochen. Aber du musst loslassen.« Der Griff verstärkte sich, aber seine Stimme bekam einen warmen, hypnotischen Unterton. »Lass einfach die Augen zu, wenn es leichter ist. Und jetzt nimm die linke Hand von der Strebe und leg den Arm um meinen Hals.«
»French, ic h …«
»Auf drei, okay?«
Es gab nicht viele Alternativen. Ihre Arme zitterten schon
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