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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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nach draußen.
     
    Ich rufe meine Mutter an. Nach ein paar Freizeichen schaltet sich der Anrufbeantworter ein, erzählt Unsinn von einer Familie Folkert, die nicht ans Telefon gehen kann. Klar kann die Familie nicht ans Telefon, ist ja keine Familie mehr da. Fabian ist tot. Mein Vater ist gegangen. Ich komme nicht nach Hause. Nur noch meine Mutter ist übrig, und die allein ist wohl keine Familie.
    Ich hinterlasse keine Nachricht. Wo soll meine Mutter mich auch zurückrufen? Ich brauche nicht irgendwann einen Menschen, sondern jetzt.
    Wen?
    Ich rufe Anja an. Zum Glück weiß ich auch ihre Nummer auswendig. Es tutet, dauert etwas, bis sie sich meldet. Lilli plärrt ins Telefon.
    «Anja?»
    Dann endlich höre ich Anjas Stimme. Ihre Stimme klingt verweint. «Bist du das, Luisa?»
    «Ja. Ist etwas passiert? Weißt du, wo meine Mutter ist?»
    «Sie ist weg. Oh, Luisa!» Und Anja weint. Nicht wie Lilli, die sich mit ihren Tränen alles von der Seele wäscht. Anjas Weinen quetscht sich zwischen ihre Worte, ohne zu fragen. Zerdrückt den Sinn von «so lange weg» und «nirgends gefunden» zu furchtbarer Angst, die mir die Kehle zuschnürt. Was ist mit meiner Mutter passiert? Endlich verstehe ich sie. Verstehe sie und kann wieder atmen. Nicht meine Mutter. Lotti ist weg. Mit ihrem kleinen Rad. Sie trug ihre rosa Jacke. Und meine Mutter sucht sie. Meine Mutter, die Nachbarn und vielleicht auch bald die Polizei.
    Es ist doch noch nicht mal Mittag. «Ist Lotti denn nicht in der Schule?»
    «Es ist Sonntag, Luisa», seufzt Anja, und ich verstehe, was sie eigentlich sagen will. Ich bin aus ihrem Leben, aus ihrem Lebensablauf ausgestiegen. Ich bin anders. Wie könnte ich da verstehen, dass sie ihre Tochter vermisst?
    Aber ich verstehe es, und wie ich es verstehe. Ich bin Experte im Vermissen. Ich vermisse nicht nur meinen Bruder. Ich vermisse Sjöll, Karr, der jetzt bei seinen Eltern ist und Moritz heißt, Thursen, der schon fast ganz Wolf ist.
    Und bald werde ich Lotti vermissen.
    Nein!
    Nein! Nein! Nein!
    Diesmal werde ich nicht wie bei Fabi danebenstehen und nichts tun. Es wie bei Karr einfach geschehen lassen.
    «Anja, ich helfe euch suchen!», sage ich. Und schneller, als ich denken kann, wächst in meinem Kopf ein Plan. Eine winzige, verzweifelte Hoffnung.
    «Aber wie denn?», schnieft Anja. «Woher willst du denn wissen, wo sie ist?»
    «Tschüs, Anja, ich muss Schluss machen.»
    Dann bringe ich Schwester Birgit das Telefon zurück, bedanke mich hastig und hänge mir meinen Rucksack über die Schulter. Ich muss mich beeilen.
    Ich muss Lotti finden. Bald, denn es ist viel zu kalt für so ein kleines Mädchen da draußen. Nein, ich weiß nicht, wo sie ist. Aber da gibt es welche, die das herausfinden könnten. Deren Geruchssinn besser ist als der von jedem anderen Menschen. Werwölfe.

FÜNFZEHN
    «Wo ist Thursen?», frage ich Norrock, der allein im Wolfslager auf einem Baumstumpf sitzt.
    «Wie war es bei Karr?»
    «Lebt noch. Ich habe ihn nicht gesehen, seine Eltern haben ihn abholen lassen.»
    «Gut.» Norrock hat Zrries Jacke auf den Knien und zerrt am Reißverschluss.
    «Norrock, wo ist Thursen?»
    «Ich glaube nicht, dass er mit dir sprechen will.» Der Verschluss klemmt. Bewegt sich kein bisschen. «Nach eurem Streit gestern will er dich garantiert nicht mehr sehen.»
    Ich bleibe vor ihm stehen. «Hat er mit dir darüber geredet?»
    «Das brauchte er nicht.»
    «Und woher weißt du dann so genau Bescheid?»
    «Wir Wölfe riechen so was!»
    Für einen Moment weiß ich nicht, ob er nicht vielleicht sogar die Wahrheit sagt. «Norrock, sag mir einfach, wo er ist!»
    Er zeigt auf die Höhle. «Schläft», sagt er.
    «Jetzt?»
    «Hast du nicht gesehen, wie fertig der aussah?»
    «Natürlich ist er das. Erst Sjölls Tod und jetzt die Sache mit Karr!»
    «Ach, das ist doch Blödsinn. Was ihn wirklich fertigmacht, ist doch was ganz anderes. Merkst du nicht, wie er kämpft? Wie viel Kraft es ihn kostet, noch immer Mensch zu sein? Wie er alles gibt für jede Minute, die er bei dir sein und mit dir reden kann?»
    «Er ist nur Mensch, wenn ich da bin?»
    «Klar.» Norrock flucht leise, zupft den eingeklemmten Stoff Stück für Stück aus den Zähnen des Reißverschlusses. «Und dazwischen vermisst er dich wie Hölle.»
    Ich muss daran denken, was Thursen mir gesagt hat. «Werwölfe vermissen nicht, hab ich gehört.»
    «Wer hat dir denn den Scheiß erzählt?», lacht Norrock. Zufrieden zieht er den Jackenverschluss auf und zu. «Na

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