Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
nicht selbst zu töten. Aber an dem dreimal verfluchten Tag, an dem Thursen aufhört, Mensch zu sein, verwandelst du mich in einen Werwolf.»
Er hält mir die Hand hin. Wartet, dass ich einschlage. «Das verspreche ich dir, Luisa.»
Ich muss sichergehen. «Egal, was Thursen sagt?»
«Wenn Thursen sich nicht mehr in einen Menschen verwandeln kann, hat er nichts mehr zu sagen. Dann bin ich der Boss.» Er zwinkert mir zu. «Und ich mag ein großes Rudel.»
Macho. «Vielleicht wählen die Wölfe jemand anders? Vielleicht Zrrie?»
Er schüttelt den Kopf. «Leitwolf ist der, der von denen, die sich noch verwandeln können, am längsten dabei ist. Ganz klar: Nach Thursen bin ich dran.»
Ich wäre Wolf nicht in Thursens, sondern in Norrocks Rudel. Will ich das? «Norrock, der Leitwolf.»
«Luisa! Eine Horde wilder, ungezähmter Wölfe, die dir aufs Wort gehorcht! Da hält dich niemand mehr auf! Und ich sag dir was: Ja, ich freu mich drauf. Sie sollen Angst vor uns haben.» Norrock schleudert die leere Wasserflasche in die Dunkelheit. «Alle! Die verdammten Jäger sowieso.»
Rawuhn hebt den Kopf, als das Geschoss polternd zu Boden geht, sieht sich um und schläft weiter.
«Thursen sieht das anders», sage ich.
Norrock lacht. «Thursen ist ’ne Lusche.»
«Aber du folgt ihm trotzdem?»
«Thursen hat mich zu den Wölfen geholt, ich schulde ihm was.»
Was soll ich ihm sagen? Dass ich finde, dass Thursen gerade deshalb einer der wunderbarsten Menschen der Welt für mich ist? Weil er sein Rudel verborgen hält und seine Macht als Leitwolf nicht ausnutzt? Norrock würde es doch nicht verstehen. «Ich versuche noch zu schlafen. Morgen will ich gleich zu Karr ins Krankenhaus.»
Als ich an ihm vorbeigehe, langt Norrock nach mir und hält mich an der Decke, die von meinen Schultern hängt,fest. «Bleib lieber bei Thursen, solange der noch Mensch ist!»
Mit einem Ruck ziehe ich ihm den Deckenzipfel aus der Hand. «Das, Norrock, ist meine Sache. Und noch bist du nicht mein Leitwolf.»
Ich gehe in die Höhle zurück, wühle mich wieder in mein Blätterbett, sicher, dass ich niemals schlafen kann. Es ist so kalt und noch so lange hin bis zum Morgen. Ich vergrabe mich in Thursens warmes, struppiges Fell. Ob Karr noch lebt? Schläft er ruhig, oder kämpfen die Ärzte immer noch um sein Leben? Oder ist vielleicht schon alles vorbei? Thursen hat recht, was auch immer gerade passiert, ich kann es nicht ändern. Endlos kreisen meine Gedanken. Und dann schlafe ich doch wieder ein.
Endlich ist der neue Tag angebrochen, ein blasser Herbsttag. Die Sonne hat die Wolken zugezogen, und es ist unangenehm graukalt. Trotzdem war Thursen, mein schwarzer Wolf, schon in der Havel schwimmen. Ich laufe ihm entgegen, entdecke ihn gerade, als er das Ufer erreicht. Als er mich sieht, schüttelt er sich das Wasser aus dem Fell und kommt in langen Sätzen zu mir. Verwandelt sich im letzten Moment, nimmt mich in die Arme, legt seine Wange an meine. «Schön, dass du da bist», flüstert er. Seine feuchten Haarspitzen kitzeln mich, und ein bisschen riecht er wie frisch geduscht.
«Schön, dass du wieder da bist», sage ich. Und ich weiß, er versteht mich: Schön, dass du wieder Mensch bist.
Wir gehen zurück zum Lager und frühstücken zusammen. Ich habe Kekse in meinem Rucksack und etwas Zwieback. Ich esse und biete ihm auch davon an. Er nimmt wenig, obwohl ich weiß, dass er hungrig ist. Und ich weißauch, habe es auf meinem Weg zum Wasser unter den überhängenden Zweigen gesehen, dass ein Stück weiter ein halbgefressenes Wildschwein liegt. Ahne, dass er schon den ganzen Morgen diesen Geruch in der Nase hat, den ich kaum wahrnehmen kann. Und nur hungert, damit ich nicht sehe, wie er rohes Fleisch herunterschlingt.
Ich nehme noch einen Keks. Betrachte ihn, während ich an Karr denken muss. Und daran, dass ich doch bald selbst ein Wolf werde. Soll ich Thursen sagen, was ich mit Norrock besprochen habe? Dass ich gestern, bevor ich wusste, wie Norrock als Leitwolf sein würde, noch bereit war, ein Leben mit ihm, Thursen, gegen meinen Namen einzutauschen? Erst noch den Keks. Spröde knackt er zwischen meinen Zähnen.
Überhaupt, der Name. Erst vergessen die Werwölfe ihn. Und dann, wenn ein anderer ihren Namen sagt, ihr vergangenes Ich hervorholt, bricht er ihnen damit die Seele. Warum sind Namen so mächtig?
«Thursen?»
«Ja?»
«Wenn ihr Wolf werdet, euch verwandelt, vergesst ihr doch nach und nach alles?»
Er zerbricht seinen Keks
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