Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Karr an der Rezeption im Krankenhaus.
Die Frau hinter dem Fenster im Eingang sucht im Computer. «Der ist noch auf Intensiv», sagt sie. Beschreibt mir den Weg, Fahrstuhl, Gänge, Glastüren. Dann stehe ich vor der Station. Man kann die Intensivstation nicht so einfachbetreten. Man muss klingeln und warten, dass einen jemand einlässt. Wahrscheinlich muss man dann auch noch einen von diesen merkwürdigen grünen Kitteln anziehen. Einen Moment zögere ich. Will ich da wirklich hinein? Will ich mir noch einmal Karrs zerschlagenes Gesicht antun? Genau sehen, was an ihm alles kaputt ist? Reicht es nicht, zu wissen, dass er lebt?
«Wen möchtest du denn besuchen?», fragt da jemand hinter mir.
Eine Schwester, sie steckt in einem weißen, kurzärmeligen Kittel und trägt ihr braunes, volles Haar hinten zusammengebunden. Auf ihrem Anstecker steht «Schwester Birgit».
Na gut, zu spät zum Fliehen. «Ich wollte zu Moritz Hassmann.»
«Oh. Moritz?»
Ich nicke
«Ach, du Arme!» Dann legt sie den Arm um mich. «Das tut mir so leid. Du kommst zu spät, er ist nicht mehr hier.»
«Zu spät?» Ich weiß zu gut, was das heißt. Ich weiß auch, wie viel Angst ich hatte, zu spät zu Fabian zu kommen. Aber das bin ich nicht. Wir konnten noch reden. Das Krankenhaus hat uns angerufen, wir sind hingefahren, und ich habe sein ganzes Sterben mitbekommen. Bis zu seinem letzten Atemzug. Und jetzt, bei Karr, bin ich zu spät und konnte mich noch nicht einmal verabschieden. Wie soll ich das bloß den anderen sagen? Die Tränen rollen über mein Gesicht.
«Na, ist ja schon gut!» Die Schwester reicht mir ein Taschentuch. «Kein Grund, zu weinen.»
Kein Grund, zu weinen? Karr ist tot! Erst Fabi, dann Sjöll und nun auch noch Karr. Was kommt jetzt noch?Wie viel muss ich noch ertragen? «Wissen Sie, wann er beerdigt wird?», frage ich schluchzend.
«Beerdigt?» Sie packt mich an den Oberarmen. «Was denkst du dir denn, Mädchen? Er ist heute Morgen von der Intensiv runter, und seine Eltern haben ihn zu sich in ihre Stadt ins Krankenhaus geholt!»
Karr lebt.
Jemand zieht die Vorhänge vor meinen Augen zu.
Schwarz.
Nichts.
Unter meinen Händen spüre ich klebriges Kunstleder. Ich liege. Liege auf einer dieser schmalen, harten Untersuchungsliegen, allein in einem kleinen Zimmer. Über mir sickert leise Musik aus einem Lautsprecher. Ein Sommerlied, leicht, rhythmisch und ganz fremd. Habe ich überhaupt gelebt in diesem Sommer?
Die Musik verstummt. Unterbrechung des Programms, höre ich. Sturmwarnung für das gesamte Sendegebiet.
«Geht es dir besser?» Es ist Schwester Birgit mit einer Tasse Kaffee. «Tut mir leid, da haben wir uns wohl gründlich missverstanden.»
«Entschuldigung, dass ich so einfach umgekippt bin.»
Die Schwester sieht mir ins Gesicht, während sie an meinem Handgelenk den Puls fühlt. «Wann hast du das letzte Mal was gegessen?»
«Heute Morgen, wieso?»
«Was?»
Ich überlege. «Kekse.»
«Wie viele?»
Wie viele? Wir haben geredet. Und dazwischen habe ich gegessen. «Zwei vielleicht?»
«Und das, meinst du, reicht so für den Tag?»
«Ich weiß nicht.»
«Aber ich weiß es.» Sie legt mir die Hand auf die Schulter. «Ich besorge dir ein Frühstück. Ist bestimmt noch eins übrig von heute Morgen, und es wäre doch schade, es in die Küche zurückzuschicken, oder? Dann wird es nämlich weggeschmissen.»
«Danke.»
«Und dann rufst du deine Eltern an und lässt dich abholen. Alles klar?»
Ich nicke.
Sie kommt wieder mit einem Tablett. Ein Brötchen, Butter, Marmelade, ein Joghurt, Teller und Messer. Ich schneide das Brötchen und streiche Butter auf die Hälften, dann die rote Marmelade, Kirsch, sauber verteilt bis zum Rand. Und das soll ich jetzt essen? Schwester Birgit streckt den Kopf in die Tür. Hat sie nichts anderes zu tun?
Ich esse. Gehorsam. Kaue. Schlucke. Erst werde ich wirklich satt. Dann wird mir übel. Mit jedem Bissen mehr. Die zweite Hälfte bringe ich nicht herunter. Auf keinen Fall. Und wieder steht Schwester Birgit im Raum.
«Ich bin diese Mengen nicht mehr gewöhnt», sage ich ihr. «Tut mir leid.»
«Und mir erst. Mädchen, du hast eine Essstörung. Sieh zu, dass du das wieder in den Griff kriegst, oder du kommst in null Komma nichts wieder zu uns. Und dann darfst du garantiert länger bleiben!»
Dann zieht sie ein Telefon aus ihrer Kitteltasche. «Hier. Ruf an, damit du abgeholt wirst.»
Ich nicke. «Danke», sage ich. Sie lächelt und nimmt das halbleere Tablett mit
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