Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
zwischen den Fingern, ohne es zu merken. «Warum willst du es noch einmal hören? Du weißt es doch schon.»
«Also, wenn das der Preis ist dafür, Werwolf zu werden –»
Er lässt mich nicht aussprechen. «Das ist nicht der Preis.»
«Nicht? Es gibt keinen Preis? Aber du hast doch gesagt, der Preis für die Verwandlung sei für mich zu hoch, als dass ich ihn zahlen sollte!»
«Nein, Luisa. Der Preis ist nicht der Name. Der Preis, den wir zahlen, sind die Jahre, um die sich unser Leben verkürzt. Ein Wolfsleben dauert eben nicht so lange wie ein Menschenleben. Die Lebenszeit geht für uns schneller herum.»
Seine Antwort ist Gift. Schmerzt in der Brust. Macht mich benommen. Alles dreht sich. Ich halte mich am kalten, kratzigen Baum und hätte mich doch so viel lieber festgehalten an ihm.
Was tut er mir an?
Was tut er sich an?
Was kommt denn jetzt noch?
Schlimm genug, dass er mir so fehlt, wenn ich ihn nicht umarmen kann. Da ist ja noch die wenige Zeit, in der er Mensch ist. Auch wenn sie weniger wird. Wenn sie endet, viel zu bald. Dann wird er ganz Wolf sein, glücklich und frei, sagte Sjöll.
Rosarote Lüge! Statt sorgenfrei ist er bald tot.
Wenn ich Mensch bleibe, wird, wenn ich gerade mitten im Leben bin, irgendwo im Wald ein Wolf sterben, weil seine Zeit abgelaufen ist.
Und er weiß es, verdammt!
Darum soll ich kein Werwolf werden. Weil ich so auch früher sterben würde. Und weil ich versprochen habe, zu leben, egal was kommt. Warum nur, warum habe ich ihm an diesem schrecklichen Tag auf dem Turm mein Versprechen gegeben, zu leben?
Und warum darf er einfach sterben?
«Warum wirfst du dein Leben weg?»
Er schweigt. Streicht mir mit traurigem Lächeln eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Ich schlage seine Hand beiseite. «Rede! Sag mir, warum der Mensch, der mir am wichtigsten ist auf der Welt, sein Leben einfach vergehen lässt, versickern wie eine Pfütze im Waldboden!»
«Du stellst die falsche Frage. Du tust, als hätte ich etwas entschieden, als ich mich das erste Mal verwandelt habe. Als hätte ich da noch eine Wahl gehabt! Als Mensch wollte ich sterben, und jetzt, als Wolf, lebe ich immerhin noch eine Weile. Die Entscheidung, dass mein Leben nicht lang sein wird, hat das Schicksal getroffen, nicht ich.»
Meine Hände sind eiserne Fäuste. Wenn ich jetzt nicht schreie, ersticke ich. Ertrinke in Verzweiflung, die wie Wut schmeckt. «Scheißschicksal! Du kannst entscheiden! Ändere deinen Weg! Höre auf, dich zu verwandeln, und bleib Mensch! Sieh mich an! Ich schaffe das doch auch jeden Tag!»
«Vielleicht bist du stärker als ich.»
«Unsinn. Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne! Hör auf, versprich mir, dass du dich nie mehr verwandelst!»
«Das kann ich nicht.»
«Verkriech dich nicht hier im Wald! Nimm endlich dein Leben wieder selbst in die Hand!» Ich gehe auf ihn zu, will ihn schütteln. Er weicht zurück. Flackern seine Augen gelb? Es ist mir egal.
«Luisa! Ich kann das nicht!»
«Doch!»
Plötzlich ist er Wolf. Meine wütenden Hände krallen sich in seinen dichten Pelz. Er duckt sich, knurrt leise. Eine leise Warnung.
Ich lasse los, als würde sein Fell mir die Finger verätzen. Hole meinen Rucksack, werfe ihn mir über die Schulter.
Wenn ich schon um ihn trauern muss, kann ich auch gleich damit anfangen.
Ich werde ihn vermissen, er mich nicht. Er wird Wolf bleiben. Und Wölfe vermissen nicht, Thursen hat es mir selbst gesagt.
Totes Holz kracht unter meinen Schritten wie abgenagte Rippen des Waldes, übertönt die Vogelstimmen. Ich trete mit aller Kraft gegen einen Stein. Der rührt sich nicht. Verdammter Stein. Verdammter Thursen. Meine Zehen schmerzen. Irgendwo hinter mir ist ein Wolf. Ein großer schwarzer Werwolf. Ich humpele weiter, drehe mich nicht um.
Endlich bin ich sicher, dass er mich nicht mehr sehen kann. Teile das Gestrüpp mit den Händen, lasse es hinter mir. Auf dem Wanderweg geht es sich leichter. Trotzdem: Die nächste Bank ist meine. Hart und kalt ist sie, als ich mich darauf fallen lasse. Vorsichtig ziehe ich den Schuh aus, die abgetragene Socke. Der große Zeh ist ein bisschen rot. Aber ich kann damit wackeln. Nicht gebrochen. Nicht so schlimm.
Meine Gedanken kleben an Thursen, der nicht da ist, wenn ich ihn brauche. Warum ist er nicht hier und tröstet mich? Nimmt mich in die Arme und verwischt den Schmerz mit einem Kuss? Ich könnte nicht mal mehr denken.
Moritz Hassmann. Ich erinnere mich an den richtigen Namen, frage nicht nach
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