Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

er mich in die Stricke knotet. Es ist so verdammt hoch!
    «Ich lass dich nicht fallen, ich verspreche es!», sagt er. Kann er meine Gedanken lesen?
    Wütend donnert der Sturm das offene Tor gegen die Außenwand. Thursen hängt mir Zrries gelb-oranges Seilstück aufgerollt über die Schulter, packt das lange Seil, und ich schwebe. Versuche flach zu atmen, weil das Seil mir auf die Rippen drückt. Wie hat Thursen das bloß ausgehalten? Über die Fässerwand hinweg kann ich endlich die kleine zusammengekrümmte Gestalt erkennen. Die rosa Jacke und die blonden Haare. «Lotti ist hier!», rufe ich. «Wir haben sie!» Thursen lässt mich zu ihr hinab.
    «Lotti?» Sie hebt nicht mal den Kopf. Ich komme neben ihr auf. Mein rechter Schuh plitscht in die Pfütze vor ihrer Brust.
    Was ist, wenn sie –? Ich knie neben ihr, suche ihren Puls. Erst finde ich ihn nicht. Dann ist da, an der Halsschlagader ein winziges Pochen. Lotti lebt!
    Hier ist der Gestank unerträglich. Ich muss mich anstrengen, nicht auch ohnmächtig zu werden. Nicht, bevor ich sie mit Zrries Seil vor mich gebunden habe. Dann kann Thursen uns beide hochziehen. Dann ist es egal, ob ich bei Bewusstsein bin. Flach atmen. Es flirrt vor meinen Augen, und mein Magen dreht sich.
    Der Knoten ist fest. Ich zerre noch einmal zur Probe an Lottis Seil. Dann ziehe ich an meinem. Das Signal für Thursen. Fertig. Thursen versteht. Das Seil strafft sich. Thursen hebt uns an, und Lotti baumelt vor meinem Bauch.
    Ist das ein Martinshorn? Ich kann nichts sehen. Bin noch hinter der verdammten Fässerwand. Viel zu viele Stimmen! «Rufen Sie Ihre Hunde zurück!», dröhnt es mit Megaphon durch die ganze Halle. Polizei? Knurren antwortet. Der Wind rüttelt am Dach. Die Wölfe halten dieStellung. Mehr Stimmen. Rufen. Ich kann immer noch nicht sehen, schwebe so schrecklich langsam höher. Ruck um Ruck.
    Mein Kopf ist über der Oberkante. Da unten ist Thursen. Ich hebe die Hand. Alles klar, Lotti lebt! Da knallt etwas. Wie ein kurzer Husten, nur tausendmal so laut. Der Knall prallt von den Hallenwänden ab, verdoppelt sich und stürzt mir von allen Seiten in die Ohren. «Norrock!», höre ich Thursen schreien. Sehe sein entsetztes Gesicht, ehe ich falle.
    Nur ein Stück. Genug, dass ich denke, ich sterbe.
    Der Schuss. Hat es Norrock erwischt?
    Einen Moment hänge ich im Nichts, dann geht es wieder aufwärts. Noch langsamer, aber Thursen ist da. Hat uns trotz allem nicht fallen gelassen. Ich schlinge meine Arme um Lotti. Dann sind wir so hoch, dass ich mit den Füßen die Krone der Fässermauer berühren kann. Thursen zittert, klein dort unten.
    Er braucht eine Pause! «Lass mich», schreie ich, «ich stell mich auf den Fässerturm!»
    Er schüttelt den Kopf, dass die Haare fliegen.
    «Los!», fordere ich.
    Das Seil gibt nach. Ich balanciere. So schrecklich hoch. Aber noch mehr Angst macht mir Thursen. Er zittert nicht mehr nur. Mit einer Hand fährt er sich übers Gesicht. Dann guckt er hoch zu mir, und ich kann in seine Augen sehen. Sie flackern gelb, Raubtieraugen, der Wolf will hervorbrechen, ich kann es bis hier oben sehen. Über Thursens Hände wuchert ein Schatten wie schwarzes Fell. Breitet sich über die Arme aus. Lotti kommt zu sich. Strampelt mit den Armen und Beinen, dass der ganze Turm unter uns anfängt zu schwanken.
    Thursen greift zu. Zerbeißt entschlossen das Wolfsknurren, das aus seiner Kehle will, packt das Seil fester und hält uns. In bestimmt zehn Metern Höhe.
    «Thursen?», rufe ich hinunter. Kenne die Antwort. Zu viel. Er kann nicht mehr. Gleich ist er Wolf, und das Seil gleitet an seinen Pfoten ab. Er weiß es, ich weiß es.
    Seine Stimme kommt tief aus der Kehle, heiser. «Sag meinen Namen!»
    «Nein!», schreie ich. Sjöll, Karr, Norrock. Nicht auch noch Thursen! Sehe Karrs leere Augen vor mir, voller Angst. Nicht Thursen. Nicht er auch noch!
    «Sag ihn, oder ich lasse Lotti und dich herunterstürzen!»
    Lotti. Lotti zappelt. Lotti lebt.
    «Luisa!»
    Entscheiden. Jetzt. Lotti oder Thursen?
    Thursen hat eine Chance. Lotti nicht, wenn wir abstürzen. «Lars Anton Lund!»
    Ich erwarte einen Schrei wie den von Karr, einen heiseren Entsetzensschrei, der die Halle mit allem Grauen dieser Welt füllt.
    Nichts.
    Stille.
    Stattdessen hastig stampfende Schritte. Die Polizisten kommen in die Halle gelaufen, an Thursen vorbei bis direkt vor die Fässerwand. Drei Männer und eine Frau, hustend, mit Pistolen in den Händen. Einer von ihnen hat auf Norrock geschossen! Mit