Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
huste mir die Seele aus dem Leib. «Sie ist nicht da», stoße ich zwischen zwei Hustenanfällen hervor.
«Doch», sagt Thursen. Hält mich an der Schulter, damit ich nicht wieder vornüberfalle.
«Sie kennt doch meine Stimme!» Langsam wird es besser. «Sie würde mir antworten, Thursen!»
«Sie ist da», sagt Thursen und zeigt auf die halb eingestürzte Fässerburg hinter uns. Ein unüberwindlicher Ring. «Dadrin.»
«Das kann nicht sein!»
«Doch. Vertrau mir.»
«Woher weißt du das?»
Er sieht mich nicht an. «Das rieche ich.»
«Du bist ein Mensch! Menschen riechen so was nicht. Schon gar nicht hier in dem Gestank!»
Er verzieht das Gesicht. «Es ist nicht mehr viel Mensch übrig in mir, Luisa, das weißt du doch.» Er nimmt mich am Arm. «Glaub mir, ich rieche Lotti da hinter der Wand.»
«Hinter diesem Blechdosenhaufen? Und wieso antwortet sie nicht? Lotti!»
«Vielleicht kann sie nicht! Vielleicht hat sie zu viel von dem Zeug eingeatmet! Genauso wie du!»
Vielleicht hat er recht, und Lotti liegt dort, bewusstlos, verletzt. Scheiße! Wenn Lotti da hinter den Fässern ist, dann muss ich da rein. Ich taste den riesigen Tonnenstapel mit Blicken ab. Wo kann ich hoch?
Die Fässerwand ist nicht ganz gerade gestapelt. Einzelne Fässer stehen weiter vor als andere. Ich stelle meinenFuß auf einen der Deckel und stoße mich ab. Meine Hand tastet nach einer Kante und findet Halt. Den zweiten Fuß schiebe ich in eine Lücke zwischen zwei Fässern, das eine Fass bewegt sich ein Stück. Von dem Gestank wird mir schon wieder schwindelig. Alles scheint zu schwanken. Bloß nicht zu tief atmen!
«Hör auf, Luisa!», schreit Thursen. «Schnell, runter da! Die Wand stürzt gleich ein!»
O Gott, er hat recht! Nicht nur ich schwanke, die ganze Wand schwankt! Und wenn sie einstürzt, erschlagen die Fässer Lotti! Mit einem Satz rückwärts bin ich unten. Thursen packt meinen Arm, zieht mich wieder zur Eingangstür. Erschreckt halte ich die Luft an. Die Wand wankt immer noch. Knirschend neigt sie sich vor und zurück. Nicht umstürzen! Ich grabe meine Finger in Thursens Hand. Ein Fass aus der obersten Reihe kippt weg. Nach außen. Schlägt wie ein Geschoss auf dem Boden ein. Beton spritzt, und das Fass schlägt leck. Rollt scheppernd ein Stück Richtung Außenwand. Dann endlich, endlich steht die Wand wieder still.
Sofort bin ich wieder drin. Ist der Berg noch höher geworden? Ich lege den Kopf in den Nacken. Drei Stockwerke, mindestens. «Und jetzt?» Meine Augen brennen. Nicht nur von der ätzenden Chemie. Sollen wir jetzt die ganzen Fässer wegräumen? Das dauert doch Jahre! Bis dahin ist Lotti doch erstickt!
«Ich geh hoch.»
Ich starre Thursen an. «Kannst du fliegen?»
«Gib mir das Seil aus deinem Rucksack!»
Gehorsam wühle ich in meinen Sachen. Thursen nimmt es und versucht ein Ende über einen Dachträger genau über uns zu werfen. Wirft nicht einmal annähernd hoch genug.Flucht. Dann holt er sein Messer aus der Manteltasche. Bindet es mit einem ärgerlich geknüpften Knoten an das Seilende. Klirrend knallt das Messer gegen den Stahlträger und fällt zurück. Beim nächsten Mal endlich rutscht es zwischen Decke und Träger hindurch. Thursen fängt das Messer, das, leicht hin und her schwingend, am Seil nach unten sinkt.
«Nimm das andere Ende», sagt er, als er das Messer aus dem Seilknoten löst. Thursen zieht seinen Mantel aus, wirft ihn auf den Boden, dann knüpft er aus dem Seilende eine Schlinge und steckt die Arme hindurch. Mir wird schwummerig, als ich an den Bluterguss denke, den Norrock ihm verpasst hat. Vorsichtig versucht er die Schlinge so zu schieben, dass sie nicht darauf drückt. «Kannst du mich hochziehen?», fragt er.
Ich packe das Seil und ziehe. Hänge mich mit meinem ganzen Gewicht daran. Mir ist so schlecht von dem Gestank! Und auch Thursen scheint es nicht viel besser zu gehen. Ich sehe die Schweißtropfen auf seiner blassen Stirn. Seine Hände zittern, als er versucht, sie wegzuwischen. Noch einmal zerre ich mit aller Kraft. Halte den Atem an. Endlich heben sich seine Füße vom Boden. Zwei, drei Meter schaffe ich, dann rutscht mir das Seil aus den brennenden Händen. Thursen federt geschickt den Aufprall ab.
«Verdammt, es geht nicht!», schreie ich. Stampfe mit dem Fuß auf. Hänge mich wieder in das Seil und rutsche nochmal ab.
Thursen befreit sich. «Ist schon in Ordnung. Du bist sowieso leichter als ich. Ich zieh dich hoch.»
Ich sehe Thursen lange in die Augen, als
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