Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
retten und dann abhauen!»
Er bleibt stehen, ein Baumstamm liegt quer vor uns. Er springt mühelos hinauf und auf der anderen Seite hinunter, während ich umständlich auf den vermoosten Holzstamm klettere und dann, bevor ich springe, seine Hand nehme. Freiwillig, damit ich beim Landen nicht auf dem unebenen Boden stolpere. «Ich habe dich beobachtet», sagt er, als wäre es eine Antwort.
«Das weiß ich. Ich habe den Hund gesehen. Warum hast du nicht mit mir geredet?»
Er zieht mich weiter. «Ich war da und habe aufgepasst. Ich wusste, dass es dir gutgeht.»
Ich reiße meine Hand endgültig los. Ich gehe nicht mehr weiter. Nicht bevor ich Antworten habe. Keinen Schritt. «Gutgehen? Verdammt, wie soll es mir gutgehen, wenn du nicht mal mit mir sprichst? Einfach wegläufst, selbst wenn ich nach dir rufe! Du musst mich doch gehört haben. Ich habe schon gedacht, ich hätte dich nur geträumt! Weißt du, wie lange ich gebraucht habe, um dich zu finden?»
Er dreht sich zu mir. «Ach, Luisa!», höre ich ihn flüstern. Meine Wut verfliegt in dem Moment, in dem ich seine raue Stimme höre. Er hebt die Hände, ziellos. Wie Schatten huschen sie über mein Gesicht. Als wollte er mich berühren und weiß nicht wie. Dann streicht er mit der äußersten Spitze seines Zeigefingers eine Haarsträhne aus meiner Stirn. Ich spüre ihn gerade noch, halte den Atem an und hoffe, dass er es nicht merkt.
«Du hättest mich nicht suchen sollen», sagt er. «Du hättest nie herkommen sollen. Glaub mir, das wäre wirklich besser.»
Verdammt, wenn er und seine Freunde sich ein ganzes Rudel Wachhunde halten, um ihr Lager geheim zu halten, wieso haben die mich dann nicht vorher abgefangen? «Bellen eure Hunde nicht, wenn Fremde kommen? Vielleicht hättet ihr sie besser abrichten sollen!» Ich sage ihm nicht, wie entsetzt ich schon bei ihrem Anblick war.
Aus irgendeinem Grund findet er das lustig.
«Was ist?»
«Wölfe können nicht bellen. Wölfe heulen.»
«Klar.» Will er mich verarschen? «Wölfe? In Berlin? So ein Quatsch! Hier gibt es keine Wölfe!»
«Wenn du es sagst.» Thursen zuckt die Achseln.
Und ich dachte, ich könnte ihm vertrauen! Kann ich? Ich sehe ihm in die Augen, und er hält meinem Blick stand. Sagt er etwa die Wahrheit?
«Kein Spaß? Das sind wirklich echte Wölfe?», probiere ich das Wort.
«Ja.» Er zieht mich weiter.
«Sind die nicht gefährlich?»
«Ja, die sind manchmal auch gefährlich.»
Ich nicke. «Ich habe sie beim Fressen gestört.»
Wölfe! Das wäre doch im Fernsehen gekommen. Im Internet. In der Zeitung. «Wenn es wirklich Wölfe hier gibt, wieso weiß niemand davon?»
«Weil hier niemand nach ihnen sucht. Und es wäre gut, wenn das so bleibt.»
Endlich wird es etwas heller, ein gelblicher Schimmer hinter einem Baumstamm. Thursen drängt sich zwischen zwei Büschen hindurch auf den Wanderweg. Wir stehen direkt unter der Laterne, die den Weg beleuchtet. «Hör zu, Luisa. Ich muss zurück, die anderen beruhigen. Wir reden wann anders weiter.»
«Morgen?»
«Gut, wenn du unbedingt willst, morgen. Aber komm bitte wenigstens nicht ins Lager!»
Will er mich schon wieder loswerden? «Und wo verdammt treffe ich dich, wenn ich nicht ins Lager kommen soll?»
Er seufzt. Einen Moment überlegt er, sieht sich um, als suche er nach einer Wegmarkierung. Dann zuckt er die Achseln, sagt: «Hier. Bei Sonnenuntergang.»
Ich nicke. Er scheint in Eile. Keine Geste der Verbundenheit, kein Abschied, nichts von dem, was ich mir so wünschen würde. Er dreht sich nur wortlos um und ist ein paar schnelle Schritte später mit der Dunkelheit verschmolzen. Als ich höre, wie im Gebüsch, ein ganzes Stück entfernt, knacksend ein Zweig bricht, sehe ich ihn immer noch vor mir, sein von Anthrazitsträhnen umrahmtes Gesicht, seine dunklen Augen, in denen sich das Licht der Laterne spiegelt.
Während ich nach Hause gehe, kann ich nur an unser nächstes Treffen denken. Unter der Laterne. Licht im Dunkeln. Mein Knöchel schmerzt immer noch, dort, wo einer von Thursens Wölfen mich erwischt hat. Ich sollte mein Bein schonen und nicht den ganzen Weg durch den Wald zum Bahnhof gehen. Aber was soll ich sonst tun? Wer käme schon und trüge mich aus dem Wald heraus?
Endlich im Zug kann ich den Fuß hochlegen. Mir gegenüber sitzt eine Frau und liest. Sie guckt pikiert über ihren Krimi hinweg, als ich mein Bein auf der Sitzbank neben mir ausstrecke. Was für ein friedliches Leben muss sie führen, wenn ein schlammiger
Weitere Kostenlose Bücher