Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Mein Bruder hat auch immer so gerne Spaghetti gegessen. Er wickelte sich Unmengen um die Gabel und bekam sie nachher nicht in den Mund. Unsere Mutter hat dann immer –
«Luisa?», ruft Lotti aus dem Flur. «Spielst du mit mir Federball?»
Ich will nicht Federball spielen. «Tut mir leid!», sage ich, als ich die Teller in den Abtropfständer stelle. «Wir haben ja gar keine Schläger, keine Bälle und so.»
«Doch, hier sind welche!»
Nein! Das alte Spiel? Die gelbgrünen Schläger mit dem kleinen Drachen drauf und der zerdrückte Ball, der immerviel zu weit nach links flog, sodass mein Bruder und ich nie getroffen haben? Die sind hier? Ich kann damit nicht spielen! Würde es nicht ertragen, so zu tun, als sei nichts passiert, seit mein Bruder und ich das letzte Mal draußen waren. Mit tropfenden Händen, das Geschirrtuch in der Hand, bin ich auf dem Flur.
Da sehe ich, was ihre halb abgetrockneten, feucht glänzenden Hände da halten. Ein neues Federballspiel in einer Plastikhülle. Ein roter und ein blauer Schläger und ein neuer Ball, originalverpackt, erinnerungsfrei.
«Gut!», seufze ich. «Versuchen wir es.»
Ich räume das Geschirr weg, dann gehen wir auf den Hof. Ich kann wirklich nicht mehr spielen. Eine halbe Stunde habe ich, um es wieder zu lernen. Lotti lacht sich kaputt, während ich außer Atem dem Ball hinterherlaufe. Ich verfehle ihn fast noch öfter als sie. Eine halbe Stunde, bis Anja, Lottis Mutter, auf den Hof kommt, die kleine Lilli im Tragetuch auf die Hüfte gebunden.
Lotti sieht sie als Erste. «Mama», ruft sie, «da bist du ja endlich! Ich habe meinen Schlüssel vergessen. Erst habe ich auf der Treppe gesessen und geheult. Aber dann ist Luisa gekommen und hat mir Spaghetti gekocht. Mit ganz viel Tomatensoße! Und wir haben Federball gespielt.»
Anja begrüßt mich, lächelt mir zu, nickt zu alldem und folgt uns dann die Treppe hinauf, Lottis Schulmappe aus meiner Wohnung holen.
Dann dreht sie sich zu mir. «Danke, Luisa!», sagt sie. «Ich war mit Lilli beim Kinderarzt, impfen.»
«Ja, das hat Lotti mir erzählt.»
«Weißt du, ich dachte natürlich, Lotti kann rein, wenn sie aus der Schule kommt. Ein Glück, dass du so früh nach Hause gekommen bist und dich um sie gekümmert hast!Was hätte sie bloß ohne dich gemacht? Ich danke dir wirklich von ganzem Herzen!»
«Keine Ursache, habe ich doch gerne gemacht!», sage ich und «Tschüs» und dass Lotti jederzeit wiederkommen kann. Dann schließe ich die Wohnungstür hinter ihnen. Ich sage nicht, dass ich nur hier war, weil ich die Schule geschwänzt habe. Mit Glück hat das nichts zu tun. Und nicht ich habe Lotti gerettet, sondern sie mich, vor meiner toten, bruderleeren Wohnung. Was hätte ich ohne sie gemacht?
Dank Lotti ist es nicht mehr so furchtbar lange bis zur Dämmerung. Die wichtigste Zeit heute. Die einzige, die wirklich zählt. Die Zeit, zu der er auf mich warten will. Natürlich, Tageslicht passt nicht zu Thursen. Viel zu früh bin ich da. Konnte es nicht abwarten, endlich wieder bei der Laterne zu stehen, dort, wo wir gestern miteinander gesprochen haben. Dort, wo er mich gestern verlassen hat. Jetzt bin ich wieder hier, allein. Spaziergänger schlendern an mir vorbei. Jogger. Eifrige Nordic Walker bohren rhythmisch-hastig ihre Stöcke in den Boden. Erst stehe ich bei der Laterne, dann lehne ich mich an. Als die Sonne ihre letzten Strahlen durch die Wolkendecke drückt, ziehe ich meine Jacke dichter um mich und sacke am Fuß der Laterne zu Boden. Immer noch bin ich allein. Ein Junge mit dicken weißen Turnschuhen zerrt seinen Bassett an mir vorbei. Der Hund betrachtet mich verwundert. Würde wohl, wäre er ein Mensch, die Augenbrauen hochziehen. Blöder Hund! Ich strecke ihm die Zunge heraus, von seinem Herrchen unbemerkt.
Die Sonne verlässt mich, und mir wird kalt. Ich stehe wieder auf, drehe mich langsam in alle Richtungen. Jetztwar doch Sonnenuntergang, oder nicht? Wo bleibt er? Warum haben wir keine genaue Zeit ausgemacht? Ob Thursen überhaupt eine Uhr hat?
Ich halte es vor Sehnsucht nicht mehr aus. Am liebsten möchte ich alle Warnungen, alles, was Thursen mir gesagt hat, vergessen und loslaufen. Hoffen, dass ich ihn noch einmal finde. Aber im Internet habe ich über Wölfe gelesen. Wirklich gefährlich sind vor allem die, die keine Angst vor Menschen haben. Und diese Wölfe im Lager hatten keine Angst, sind mir zu nah gekommen, viel zu nah für ein Wildtier. Der Schmerz in meiner Ferse, stechend bei
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