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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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Schuh auf dem Polster das Schlimmste ist, was sie zu sehen bekommt.
     
    Zu Hause schließe ich mit meinem Schlüssel auf, ganz leise. Vielleicht komme ich in mein Zimmer, ohne mit meinen Eltern reden zu müssen. Ohne mir Belanglosigkeiten anhören zu müssen und ohne den Zwang, selbst etwas Pflegeleichtes zu sagen. Ein paar Schritte später sehe ich sie. Sie sitzen zusammen am Esstisch über irgendein Formular gebeugt, in das mein Vater mit dem Kugelschreiber Zahlen einträgt. Meine Mutter schaut kurz hoch, sieht mich an, als ich durchs Zimmer humpele, Erde auf meiner Jacke und Blätter im Haar. Ihr Blick sieht aus, als wollte sie fragen, wo ich war. Aber ihr Mund bleibt stumm. Ich sehe wohl nicht aus, als hätte ich nur Niedlichkeiten zu berichten. Nein, Mama, es ist nicht alles schön, es ist nicht alles gut! Sie drückt das Papiertaschentuch in ihrer Hand zusammen. So fest, dass die Fingerknöchel weiß werden. Ich ziehe meinen Fuß noch stärker nach auf dem Weg zur Küche. Wische Walderde von meinen Schuhen in den Teppichboden. Los, trau dich, Mama, und frag mich, wo ich war! Hör mir zu! Doch sie hat ihren Blick schon wieder auf dem Papier. Von dem Orangensaft, den ich mir eingieße, verschütte ich die Hälfte über die Arbeitsplatte, höre den Tropfen zu, die auf die Fußbodenfliesen fallen, rhythmisch wie Blutstropfen aus einer Wunde.
     
    Am nächsten Tag in der Schule habe ich Thursen im Kopf und bekomme noch weniger mit als sonst. Wenn man die Gedanken voll Wolfsaugen hat, voll Waldgeruch und blutiger Beute, wo ist da noch Platz für Mathematik? So lasse ich den Unterricht an mir vorbeiziehen, spreche nicht, schreibe nicht, antworte nicht. Es wundert sich niemand. Sie kennen mich nicht anders.
    Als ich von der Schule nach Hause komme, die Tasche über meiner Schulter ist leicht, fast leer, weil ich keine Schulbücher mehr mitnehme, sitzt Lotti im Treppenhaus auf einer Stufe und weint. Neben ihre Schulmappe gekauert, die Arme um die Knie geschlungen, sieht sie zu mir auf. Ich wünschte, ich hätte so kleine, hübsche Tränen. Wie Sommertau. Meine Tränen darf ich nicht freilassen. Ich bin mir sicher, sie wären nie solche Perlchen. Sie wären wie ein Sturzbach. Wenn sie fließen, spülen sie mich mit weg, und ich ertrinke.
    «Was ist?», frage ich, während ich in meiner Tasche nach einem Taschentuch für sie suche.
    Sie nimmt das Papiertuch, wedelt, lässt es sich entfalten wie einen gefangenen Schmetterling, reibt sich die Tränen von den Wangen und schnieft hinein. «Mein Schlüssel ist weg.»
    «Ist bei euch keiner zu Hause?»
    «Mama ist mit Lilli weg.» Sie putzt sich noch einmal die Nase, die jetzt fast ebenso rot ist wie ihre Augen.
    «Willst du mit zu mir?» Ich bin verrückt, kann es doch in meiner Wohnung schon alleine nicht aushalten. Aber Lotti nickt. Natürlich fühlt sich unsere Wohnung für sie anders an. Sie schmeckt die Leere nicht, die mir mit jedem Atemzug die Lunge verklebt. Sie sieht nicht bei jedem Blick, was alles nicht mehr da ist. Ihr fehlt keine Jungenzimmertür. Der buntstiftgekritzelte Drache, der Ritter in der Rüstung und der Papierfrosch, die früher alle im Flur hingen. Unser neuer Flur hat nur leere weiße Wände. Nicht mal über Fußbälle stolpert man mehr.
    Lotti versucht, auf Zehenspitzen ihre rosa Jacke an den Haken zu hängen. Die Garderobe ist zu hoch angebracht. Wir sind nicht mehr auf Kinder eingestellt.
    «Ich hab Hunger», sagt Lotti, als ich ihre Jacke für sie aufhänge.
    «Magst du Spaghetti?», frage ich.
    Sie nickt und folgt mir in die Küche. In einem Schrank finde ich eine Schachtel mit Fertigspaghetti, die ich ihr machen kann. Lotti sieht mir zu, wie ich im Topf rühre. Die Soße kocht. Sie wirft Blasen, bollert, als sei sie lebendig. Als alles fertig ist, sitzen wir zusammen am Küchentisch. Zwei Teller vor uns, meiner ist leer. Ihre Gabel quietscht auf dem Porzellan, als sie die Nudeln aufwickelt, sich in den Mund schiebt und dabei die Nase mit Tomatensoße beschmiert. Es ist, als ob ich mich jetzt, wo ich ihr zusehe, erinnere, wie man isst. Unsicher tue ich auch mir eine Portion auf. Stochere mit meiner Gabel darin herum, nehme wirklich eine Nudel in meinen Mund und schlucke. Es schmeckt glitschig, als würde ich gekochte Würmer verspeisen.
    Als Lotti satt ist, räume ich ab, spüle die Teller und erkläre ihr den Weg zum Bad, damit sie sich die Reste der Tomatensoße aus dem Gesicht waschen kann. Eigentlich ist ihr Mund gar nicht so verschmiert.

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