Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
jedem Schritt, erinnert mich, wo der Große mich erwischt hat. Thursen hat recht, ich kann da nicht hin, nicht mitten ins Wolfsrudel ohne ihn. Aber vielleicht kann ich ihm ein wenig entgegengehen?
Ich stakse vorwärts, meine Beine sind vom Hocken taub geworden. Nur ein paar Schritte, dann bin ich durchs Gebüsch und im Wald. Pflücke eine Brombeerranke von meiner Jacke, die sich an mir verhakt hat. Weit genug weg vom Laternenlicht stellen sich meine Augen langsam auf das Halbdunkel ein. Alles wird klarer. Aus dem gleichmäßigen Dunkel treten scharf geränderte Schatten hervor, Büsche, Bäume. Und da, da sitzt, bewegungslos unter einer Kiefer, Thursens Wolf. Der, den ich immer für einen struppigen schwarzen Hund gehalten habe. Geduckt und ängstlich sieht er zu mir. Jetzt, wo er weiß, dass ich ihn gesehen habe, hebt er den Kopf und steht auf. Läuft mir ein paar Schritte entgegen und überlegt es sich anders. Ist im nächsten Moment hinter einem dunklen Gebüsch verschwunden. Als ich ihm nachwill, knurrt er. Er ist ein Wolf, kein Hund, fällt mir ein. Soll ich trotzdem weitergehen, oder würde er mich anfallen? Ich wünschte,Thursen wäre jetzt bei mir. Warum zeigt er sich nicht? Steht er hier irgendwo hinter einem der dunklen Stämme verborgen? Lehnt an einem Baum und beobachtet mich? Ein Eichelhäher kräht plötzlich seinen Warnschrei, und ich wende erschreckt den Kopf. Hat Thursen den Vogel aufgescheucht? Da ist ein locker gewachsener Holunder, aber den Vogel kann ich nicht entdecken. Wie reagiert der Wolf? Aber auch er ist verschwunden. Dann, endlich, kommt mit schnellen Schritten Thursen. Sein Mantel schwebt ihm nach wie Krähenschwingen.
Erleichtert laufe ich ihm entgegen, will mich am liebsten in seine Arme werfen. Bleibe dann doch verlegen einen Schritt vor ihm stehen. Die Dunkelheit verbirgt das brennende Rot auf meinen Wangen. Was soll ich sagen? Einfach nur «Hi»?
«Hallo, Luisa», höre ich ihn, seine sanfte, seine raue Stimme.
«Thursen! Ich dachte schon, du kommst nicht!», platzt es aus mir heraus. Ich bin so froh, dass er doch noch gekommen ist.
«Entschuldige, ich habe es nicht geschafft.» Zu meiner Überraschung ist er es, der mich umarmt. Langsam und zögernd, als wäre er sich selbst nicht sicher, was er da tut, streckt er seine Arme nach mir aus. Legt seine Hände um meine Taille und zieht mich an sich, den letzten Schritt zu ihm. Meine Arme schlingen sich ganz von selbst um seinen Hals. Sein rauer Mantel kratzt an meinem Gesicht, als er mich festhält und ich ihn. Er ist so warm. Einen viel zu kurzen Moment lang habe ich die Augen geschlossen und atme seinen Waldgeruch.
Dann ist es vorbei. Thursen lässt mich los und sieht mich an. Sieht mich an, als würde er nach Worten suchen. Ichwünschte, ich wüsste ein Wort für das Grau seiner Schattenaugen. Er sagt nichts. Und mein Herz klopft. Klopft. Klopft.
Ich breche das Schweigen als Erste, peinlich atemlos: «Und, hast du die anderen beruhigt? Ich erzähle niemandem von euch und euren Wölfen, versprochen! Wir können also in Zukunft –»
Thursen unterbricht mich. Schüttelt den Kopf. «Da ist nichts mit Zukunft.»
«Was?», stammle ich. «Wir haben uns doch gerade getroffen. Hast du dich nur mit mir verabredet, um mir zu sagen, dass ich wieder gehen kann?»
«Luisa, hör mir zu: Wir sind nicht gut für dich.»
«Du sollst nicht gut sein für mich? Ausgerechnet du? Ohne dich würde ich jetzt gar nicht mehr … du weißt schon.» Nicht aussprechen. Lieber nicht. Nicht den Schmerz in der Brust rufen mit unbedachten Worten.
Er schüttelt nochmal den Kopf. «Du musst wegbleiben von uns. Und von mir auch.»
«Thursen, ich habe dich vermisst! Die ganze Zeit, seit wir uns das erste Mal getroffen haben.»
«Meinst du, ich dich nicht? Trotzdem –»
Was soll ich sagen? Ich strecke meine Hand aus, zögernd. Meine Fingerspitzen würden seine Wange berühren, wenn er nicht in dem Moment den Kopf drehen und über die Schulter sehen würde. «Verdammt, was tust du hier, Norrock?», grollt er.
Der Mann aus dem Wolfslager, der mit der abgewetzten Lederjacke, steht plötzlich neben uns. Ich habe ihn trotz seiner schweren Stiefel nicht kommen hören. War ich so abgelenkt?
«Thursen unter der Laterne!», sagt er. «Thursen plauderndmit den Spaziergängern, wie er auf Luisa wartet. Das hätte ich doch zu gerne gesehen.»
Thursen legt eine Hand auf meinen Arm. «Ich komme gleich zurück», sagt er. Ich weiß, er spricht zu Norrock,
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