Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
dann beneide ich sie. Als Kind habe ich mich oft einsam gefühlt. Ein paar kluge Leute meinten, es läge daran, dass ich ohne Mutter aufgewachsen bin. Aber das war es nicht.»
«Vermisst du sie denn nicht?»
Er schüttelt den Kopf. Setzt sich endlich wieder in den Sessel. «Ich habe sie viel zu früh verloren, um sie zu vermissen. Ich war einsam, weil ich anders war. Und in der Pubertät, als sich meine Engelszeichen zeigten, da wusste ich endlich, warum. Ich gehörte nicht zu den normalen Menschen, ich gehörte zum geheimen Orden der Shinanim. Zu den mächtigen Abkömmlingen der Engel. Endlich hatte ich meinesgleichen gefunden.» Er redet ohne Pause, fast ohne Luft zu holen, als hätten die Worte schon lange in ihm darauf gelauert, endlich hervorzubrechen. Ich lasse ihn reden. «Als ich zum ersten Mal mit ihnen lernen und trainieren durfte, war ich so froh. Was wir alles vermochten! Wie stark wir waren! Tja, leider war ich bald nicht mehr ganz so froh, denn es dämmerte mir, dass ich nicht einmal hier richtig dazugehörte. In der Schule hatte ich in allem, was mir wichtig war, meine Mitschüler mit Leichtigkeit übertrumpft. Als Novize des Ordens wiederholte sich meine Geschichte. Als ich mich eingelebt hatte und begann, mich anzustrengen, zog ich auch an den anderen Novizen vorbei. Jetzt wusste ich es, ich werde nie irgendwo dazugehören. Ich weiß, sie vertrauen und folgen mir, sie bewundern und beneiden mich vielleicht sogar. Ich bin ihr Anführer, aber ich werde nie einer von ihnen sein.»
O mein Gott, Elias, denke ich, mach es mir doch nicht so schrecklich schwer, das durchzuführen, was ich muss. Er öffnet sich mir, und ich muss ihm etwas vorspielen. Ganz fest denke ich an meinen Bruder. Meinen Bruder, der sich in meinen Träumen verzweifelt beklagt, dass ich ihn für tot halte. Sie müssen doch etwas bedeuten, diese Träume, oder? «Weißt du, dass Haddrice den Verdacht hatte, dass ich auch eine von euch bin? Darum musste ich mich verwandeln. Sie hat mich getestet.»
«Warum hat diese Haddrice nicht einfach nachgesehen, ob du die Zeichen hast?»
Ich nehme meinen Mut zusammen und sehe ihm in die Augen. Ich hatte fast vergessen, wie eisig, fast durchsichtig blau sie sind. Sie sehen aus wie der Himmel an einem klaren, frostigen Wintermorgen. «Was sind das für Zeichen? So etwas habe ich noch nie an dir bemerkt.»
«Kannst du auch nicht, weil wir sie normalerweise verborgen halten.» Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, steht er auf, öffnet die Knöpfe von seinem Hemd und lässt es von den Schultern rutschen. Er sieht atemberaubend aus. Jeder Muskel zeichnet sich unter seiner Haut ab. Er braucht keine weißen Flügel, kein Flammenschwert, um majestätisch wie einer der Erzengel zu wirken. Ich kann die Kraft spüren, die er ausstrahlt. Und er ist nah, viel zu nah. So nah, dass es mir Angst macht.
«Elias», beginne ich. Stehe ebenfalls auf, damit er mich nicht ganz so sehr überragt. «Du musst nicht –»
Er schüttelt ganz leicht den Kopf, und ich verstumme, damit er weitersprechen kann. «Du wolltest die Engelszeichen sehen. Wir sind keine Engel, Luisa, wir sind die Flügellosen.» Und dann dreht er mir den Rücken zu. «Wir stammen von Engeln ab, die sich mit Menschenfrauen einließen. Ihre Kinder, die Nephilim, waren fast Engel, aber sie hatten die Flügel ihrer Väter verloren. Den Überrest kann man auch nach all den Generationen noch sehen.» Während ich ihm zuhöre, betrachte ich seinen Rücken. Fast über seine gesamten Schulterblätter, und noch etwas tiefer herab, ziehen sich Flecken von zarter, dunkler Haut. Wie Narben sehen sie aus, riesige alte Brandnarben. Einen Moment glaube ich, darunter würde etwas pulsieren, aber es war wohl nur ein Muskel, als er den Arm bewegte. Unwillkürlich habe ich die Hand ausgestreckt.
«Fass sie ruhig an», sagt er, und sein Blick über die Schulter streift mich.
Die Narben berühren bedeutet, Elias über den Rücken zu streichen. Zögernd taste ich nach ihm. Nein, das hier ist etwas anderes. So anders, dass es mir fast den Atem raubt. Es bedeutet, die Hand auf das Zeichen eines der größten Mysterien der Welt zu legen. Und er lässt es zu. Ich glaube nicht, dass ihn schon viele Menschen dort berührt haben. Wenn überhaupt jemand weiß, dass er diese Stellen hat.
Dünn, zart und zerbrechlich wie Papier ist seine Haut unter meinen Fingerspitzen. Heiß unter meinen Handflächen, als ich mutiger werde. Und dann lodert eine Energie durch mich, als
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