Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
lieben wir uns sanft und zärtlich. Vergessen alle Wolfsgeschichten. Ich schmecke, fühle, rieche seine Haut und er meine. Unsere Welt ist nur noch eine Blase, gerade so groß, dass wir darin Platz finden und nichts anderes, das uns voneinander ablenken könnte.
Bis am nächsten Morgen der Alltag unsere Seifenblasenwelt zerplatzen lässt. «Wenn ich ins Krankenhaus fahre heute Nachmittag, versprich mir, dass du mich auffängst, danach!», sage ich.
Er antwortet nicht, sondern nimmt mich in die Arme und küsst mich. Und dann ist er aus der Tür.
Natürlich fahre ich nach der Schule wieder ins Krankenhaus. Ich weiß, dass es wehtun wird. Trotzdem. Vielleicht muss man sich wieder und wieder Blasen laufen an der Seele, bis man endlich Hornhaut bekommt.
Diesmal komme ich ohne Elias. Betrete das Krankenhaus allein und finde allein den Weg in die Kinderstation. Berühre meine Kette und erinnere mich dabei, dass ich Thursen gesagt habe, ich würde mir Zeit lassen. Bleibe stehen auf dem Gang. Besucher gehen an mir vorbei, Schwestern, Ärzte im Gespräch. Ich höre genau hin und lausche dem Berliner Tonfall, kurz und ein bisschen ruppig, der sich so vom Hamburger Singsang unterscheidet. Mein Bruder ist nicht hier. Nirgends.
Elias kommt mir entgegen und begrüßt mich. «Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest», sagt er, als er mich die letzten Schritte zur Kinderstation begleitet. Er ist ja immer chic angezogen, aber heute trägt er sogar ein Sakko über dem geöffneten Hemd.
«Ernsthaft, du trägst Sakko?», ziehe ich ihn auf. «Hier? Ist das nicht ein bisschen sehr formell?»
«Nur weil die meisten hier in Kitteln und Bademänteln herumlaufen?» Er zupft an seinen Ärmeln. «Du wirst schon sehen, warum.»
Gemeinsam holen wir die Regenbogenkiste aus dem Abstellraum und ziehen sie hinter uns her wie einen Handwagen.
Ein erschreckend dünnes Mädchen in Bademantel und Pantoffeln steht am Getränkewagen und schenkt sich ein Glas Wasser ein. Sie lächelt uns an. Elias nickt ihr zu und erwidert ihr Lächeln. Sie errötet, als sei er ein Filmstar.
«Das ist Alexa», sagt Elias im Weitergehen zu mir. «Du wirst sie noch besser kennenlernen. Sie hat Diabetes und kommt öfter her, um ihre Zuckerwerte richtig einstellen zu lassen.»
Ich nicke und bin mir sicher, dass sie mich nicht halb so gerne kennenlernen möchte wie den blonden, gutaussehenden Elias.
Dann haben wir unseren ersten Auftritt. In dem Zimmer liegt ein kleines Mädchen mit roten Haaren, Paulina, die leise über Bauchschmerzen jammert. Ihre Mutter streicht ihr immer wieder sanft über die Haare. Schlimmer noch als die Schmerzen sei für Paulina die Angst vor dem Krankenhaus, sagt die Mutter. Ich berühre die Kleine vorsichtig mit der Fingerspitze an der Schulter und hoffe, dass sie meine Botschaft versteht. Ich habe auch Angst, will ich ihr sagen. Aber ich kann sie nicht so einfach umarmen. Ich will ihr keine zusätzliche Angst machen, denn für sie bin auch ich ein Stück Krankenhaus.
Elias klappt die Kiste auf. Heute zaubert er. Ich spiele seine Assistentin und reiche ihm eine extra stumpfe Verbandsschere, damit die kleine, rothaarige Patientin beim Seiltrick eine Schlaufe in der Mitte durchschneiden kann. Als Nächstes lässt Elias ein Stoffhäschen in einem Hut verschwinden, dreht den Hut in alle Richtungen, tastet darin herum, verzieht das Gesicht und tut so, als ob er es nicht wiederfinden kann. Da lacht Paulina zum ersten Mal. Sie lacht noch lauter, als ich beim Wegpacken das verschwundene Häschen aus dem Hut purzeln lasse, auch wenn das nicht geplant war. Elias’ Mundwinkel zuckt, auch er hat Mühe, sich das Grinsen zu verkneifen.
Im nächsten Zimmer liegt ein frisch operiertes Kind, das sich darüber freut, wie Elias Seidentücher aus seinen leeren Händen hervorzaubert. Ich stehe hinter ihm und kann sehen, wie er die Tücher aus dem Ärmel seines Sakkos zieht. Jetzt weiß ich also, warum er es trägt.
Bei den Krebskindern blase ich die Ballons auf, die Elias zu magischen Tieren windet, und lerne, selbst welche zu drehen. Vorsichtig, damit sie nicht platzen. Elias formt einen Dackel. Ich mache die Beine länger, den Rumpf kürzer und drehe einen Wolf, auch wenn meine Hände zittern. Ein Junge ist mit langen Drähten am EKG -Gerät angeschlossen, das piepsend protestiert, als er sich vorbeugt und nach dem Ballon greifen will. Dieses schreckliche Piepsen! Die Panik kommt wieder hoch. Elias scheint es zu bemerken und legt mir beruhigend die
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