Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
habe, den Text neben dem Foto zu lesen.
Eine Mutter, ihr kleines Kind auf dem Arm, geht an uns vorbei. Das blasse Kind hat den Kopf an ihre Schulter gelegt und blickt müde ins Nichts. Und da ist immer noch dieser furchtbare Krankenhausgeruch. Das unverwechselbare leise Klappern und Quietschen von weißen Schwesternsandaletten auf hygienisch reinem Linoleum. Das unbarmherzige kalte Licht, immer gleich, Tag und Nacht auf den Fluren ohne Fenster. Die hilflose Angst, die noch immer in versteckten Winkeln in mir nistet, erwacht wieder und drückt mir den Magen ab.
Ich murmele etwas und verschwinde in der Toilette, an der wir eben vorbeigekommen sind. Keine normale Toilette. Von der Decke hängt eine Schnur mit rotem Plastikteil am Ende, an der man ziehen muss, wenn man Hilfe braucht. Wenn man zum Beispiel umkippt. Ich kenne diese Schnüre.
Doch heute und in diesem Krankenhaus werde ich nicht umkippen. Ich beuge mich über das Waschbecken und schütte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Sehe in den Spiegel, und da ist nicht mehr die Hamburger Luisa, die, verzweifelt Zuversicht verströmend, ihren Bruder besucht. Die man anschließend zusammengesackt aus der Toilette befreien muss, weil sie das Theaterspielen von innen ausgesaugt hat wie ein böser Parasit.
Stattdessen ist da die blasse, müde Berliner Luisa. Die versucht, statt ihrem Bruder sich selbst Mut zu machen. Genauso vergebens. Das da im Spiegel, das bin jetzt ich. Und genauso gut, wie ich hierbleiben und mich aufgeben kann, kann ich auch hinausgehen und mein Theaterstück von der zuversichtlichen Luisa noch ein bisschen weiter aufführen. Für mich. Und ein bisschen für Elias, der mich für viel mutiger hält, als ich bin. Ich drücke eins dieser grünen Papierhandtücher in mein nasses Gesicht, zerknülle es, versuche, meinem Spiegelbild einigermaßen glaubhaft zuzulächeln, und verlasse das Bad.
Elias wartet immer noch vor dem Schwesternzimmer auf mich. Er ist in ein Gespräch mit einer Krankenschwester vertieft. Ich bleibe für einen Moment stehen und beobachte ihn. Er lacht, er flirtet, er sieht blendend aus, lässig, selbstbewusst. Als wüsste er genau den richtigen Weg durchs Leben und würde nicht einen Moment zögern, ihn auch zu gehen. Da sind keine Zweifel, keine Unsicherheit, nur klare, ruhige Selbstgewissheit.
Die Schwester nickt und lacht mit ihm über einen Scherz, den ich nicht hören kann. Ob er schon je zurückgewiesen wurde? Sie gibt ihm noch einen Zettel und ein Schlüsselbund und verschwindet dann wieder im Schwesternzimmer. Elias bemerkt mich und kommt lächelnd auf mich zu. «Da bist du ja.»
Mit dem Schlüsselbund klimpernd, geht er neben mir den Gang entlang, schließt eine mit einem Regenbogen aus Buntpapier beklebte Tür auf. In dem Lagerraum steht die Holzkiste auf Rädern. Elias schließt das Vorhängeschloss auf. Dann ziehen wir mit der rollenden Kiste hinaus in den Flur. Unsere Schritte auf dem nackten Linoleumboden vermengen sich mit dem Schurren der Räder. Nicht so schlimm wie Schwesternschritte. Ein Elternpaar sitzt am Rand des Ganges auf Plastikstühlen. Sie unterhalten sich gedämpft, aber ihre Hände flattern aufgeregt wie Nachtschmetterlinge im Kerzenlicht. Sie erinnern mich so an meine Eltern damals. Ob sie auch schlimme Nachrichten über ihr Kind erhalten haben?
«Hier», sagt Elias, «das ist die Liste der Kinder, die wir heute besuchen sollen. Zuerst sehen wir nach Cedric, denke ich. Du wirst ihn mögen. Seine Zimmernachbarin, Anna, kenne ich noch nicht, sie ist erst seit vorgestern hier.»
Elias klopft an. Dann öffnet er und zieht quietschend und rumpelnd die Regenbogenkiste ins Zimmer. Die zwei Kinder begrüßen Elias fröhlich, und auch die Mütter, die neben den Betten ihrer Kinder sitzen, scheinen ihn schon erwartet zu haben.
Cedric hat eine Blinddarmoperation hinter sich und zeigt mir stolz seine Narbe. Ich bewundere sie, auch wenn es eigentlich nur ein kleines Pflaster über dem Bauchnabel ist.
Elias begrüßt die Kinder und lässt eine Handpuppe sprechen. Ich sehe ihn reden und merke trotzdem, wie ich wieder in die Vergangenheit rutsche. Wie die Gegenwart durchsichtig wird und dahinter das Zimmer meines Bruders durchschimmert wie ein Gespenst. Ich fühle, wie die altbekannte Angst mich einhüllt.
Jetzt jongliert Elias, er kann das richtig gut. Cedric ist begeistert und will es gleich selbst versuchen. Die Bälle kullern über das Bett, und Anna lacht ausgelassen.
Ich lehne mich hinter ihrem Tropfständer
Weitere Kostenlose Bücher