Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
Ich fühle es in meinen Ohren rauschen, und meine Beine sind taub. «Was denn? Wird sie auch –?»
«Sterben? Nein. Sie wird operiert werden. Und natürlich werden Narben bleiben. Niemand weiß, ob sie ihre Arme und Beine wieder richtig wird bewegen können. Aber sie wird nicht sterben.» Mit einem Blick vergewissert er sich, dass ich wieder okay bin. Gemeinsam rollen wir die Kiste in den Abstellraum.
«Dein Programm ist nicht sehr umfangreich, oder?»
«Was hast du dir denn vorgestellt?», fragt er und verschließt die Kiste mit dem Vorhängeschloss. «Soll ich Feuer spucken und dabei die medizinischen Geräte ruinieren? Aus hygienischen Gründen kann ich ja nicht mal ein echtes Kaninchen aus dem Hut zaubern. Ich lasse ein frisch gewaschenes Stofftier verschwinden. Wir sind hier im Krankenhaus, Luisa. Infektionen bringen die Kinder unter Umständen um.»
«Ich weiß.» Die Kiste steht schief und will nicht unter das Regal passen. Zusammen rücken wir sie zurecht.
«Und wenn es dich beruhigt: Mandy kennt alle Tricks schon, aber sie sieht sie trotzdem immer wieder gerne. Sie wünscht sich nur, dass jemand kommt und bei ihr ist. Das ist viel wichtiger als irgendwelche spektakulären Tricks.»
«Das habe ich doch gar nicht gemeint. Ich wünschte nur, wir könnten mehr für die Kinder tun.»
«Ich weiß, aber immerhin tun wir etwas. Das ist besser als nichts. Wie sieht es aus, trinken wir noch einen Kaffee zusammen?»
«Tut mir leid, ich bin verabredet.» Schließlich hat Thursen mir versprochen, heute Abend für mich da zu sein. Mich aufzufangen.
«Dann ein andermal vielleicht? Kann ich dich wenigstens irgendwohin mitnehmen? Zum nächsten U-Bahnhof?»
«Gern.»
«Gut. Ich bringe noch kurz den Schlüssel ins Schwesternzimmer, dann können wir fahren.»
Langsam habe ich mich an Elias’ rasante Fahrweise gewöhnt. Schnell und umsichtig entdeckt er die Lücken im Verkehrsstrom und nutzt sie aus. Ich suche mein Handy aus der Tasche und wähle Thursens Nummer.
«Ich bin im Krankenhaus fertig und auf dem Weg zu dir», sage ich, als er sich nach zwei Versuchen endlich meldet.
«Luisa, das ist gerade schlecht.» Seine Stimme klingt atemlos, als sei er gelaufen. «Ich bin nicht zu Hause.»
«Aber –» Ich versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. «Wann bist du denn da?»
«Es tut mir leid.» Wieder höre ich ihn nach Luft schnappen. «Ich vermiss dich. Ich liebe dich. Aber ich kann hier nicht weg. Nicht jetzt. Ich melde mich, wenn es nicht zu spät wird.»
«Soll ich warten?» Doch Thursen hat schon aufgelegt.
«Alles in Ordnung?», fragt Elias.
Nein, natürlich nicht. Thursen hat mich schon wieder versetzt. Und ich will nicht allein zu Hause rumsitzen, bis schwarze Gedanken an kranke Kinder und meinen toten Bruder meine Seele verkleben wie Teer. «Wie es aussieht, hätte ich wohl doch Zeit für einen Kaffee gehabt. Gilt dein Angebot noch?»
«In meiner», er stockt einen Moment, «na ja, Wohngemeinschaft, wollen wir heute zusammen kochen. Magst du nicht mitkommen? Vielleicht muntert dich das ein bisschen auf.»
«Und für deine Mitbewohner ist es okay, wenn du einfach noch jemanden mitbringst?»
Er lächelt. «Ich denke, Leute, die ich mitbringe, sind immer willkommen.»
Eigentlich möchte ich mich nur in Thursens Armen verkriechen. Aber mit Elias zu kochen ist bestimmt besser, als allein zu Hause zu sitzen und viel zu lange und vergeblich auf Thursen zu warten.
Ich bin erstaunt, als Elias auf die Stadtautobahn fährt, Abfahrt Kurfürstendamm runter und dann den Kurfürstendamm entlang.
Auf einmal hält er nach einem Blick in den Rückspiegel mitten auf der Busspur. «Los, komm mit!», kommandiert er, als er den Motor ausstellt. Im nächsten Moment ist er schon hinausgesprungen. Fängt an zu rennen.
«Was soll das denn?», rufe ich ihm nach. Er läuft in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Was zum Teufel hat er vor?
«Du willst doch immer etwas tun!», gibt er über die Schulter zurück. Ich laufe ihm nach, rudere mit den Armen, als ich auf einer glatten Stelle rutsche. Fange mich.
Er erreicht die alte Frau als Erster. Legt ihr beruhigend die Hand auf den Arm und wechselt leise ein paar Worte mit ihr. «Bleib bei ihr, Luisa!», sagt er, als ich sie keuchend erreiche.
Elias rennt weiter. Die Frau sieht mich zweifelnd an. Sie ist weißhaarig unter ihrer Mütze. Ihr Gesicht ist blass und voller Knitterfältchen wie altes Papier, das hundertmal wieder glatt gestrichen wurde.
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