Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
Altern. Und er ist trotzdem voller Vorfreude. «Du stirbst auch schneller», kann ich mir nicht verkneifen zu sagen.
«Das ist doch egal! Guck dir die Stars an. Ein aufregendes Leben und ein früher Tod, das ist es!»
«Es gibt Menschen, die wollen leben, weißt du. Und sie dürfen nicht.» Meine Gedanken wandern zu dem Jungen aus der Silvesternacht, der bestimmt leben wollte und für ein verfluchtes Ritual sterben musste. Er hatte diese Narbe auf der Wange. Ob er sie sich genauso geholt hat wie mein kleiner Bruder damals? Fabi war beim Rollerfahren gestürzt und genau gegen die Kante einer Gehwegplatte gefallen. Die Wunde war eigentlich ziemlich klein, erst später haben wir gemerkt, wie tief sie war. Wahrscheinlich hätten wir sie nähen lassen müssen. Später dann fiel die Kruste ab, und die Wunde wurde erst zu einem roten Mal und dann zu einem unregelmäßigen, weißen Strich. Wenn Fabian es geschafft hätte, so alt zu werden wie der tote Junge, hätte er es bestimmt cool gefunden, so eine Narbe zu haben. Vielleicht hätte er sich irgendeine spektakuläre Geschichte ausgedacht, um Mädchen zu beeindrucken. Doch er blieb immer nur ein kleiner Junge mit einer weißen Narbe im Gesicht. Bis er starb.
«Luisa?» Der Junge stupst mich mit dem Finger an und nickt Richtung Waldrand. «Sie kommen zurück.»
Rechts und links von uns raschelt und knistert es. Wölfe nähern sich und geben sich keine Mühe, leise zu sein. Sie wollen offenbar, dass wir sie hören.
Wir versuchen, noch ein bisschen von der Wärme des Feuers in uns aufzunehmen, und gehen dann hinüber zu Norrock. Der schwarze Wolf ist als Erster aus dem Wald gekommen. Auf der Lichtung steht immer noch der weiße Nebel, als hätte er etwas vom Licht des Mondes und der Sterne in sich aufgesogen. Norrock schüttelt sich den Schnee aus dem Fell, verwandelt sich in einen Menschen und ragt aus dem Nebel heraus. Mit seinem Heulen ruft er die Wölfe. Diesmal kommt keiner von ihnen als Mensch aus dem Wald. Es sieht aus, als trieben sie wie Boote durch den weißen Nebel auf uns zu. Wachsen auf der Lichtung zu Menschen empor oder traben als Tiere weiter zum Kreis. Norrock heult wieder. Der Dunst steigt höher, über unsere Köpfe hinweg. Ist gerade so dicht, dass wir einander sehen, aber der Wald und die Welt ringsum im milchigen Nichts verschwinden.
Eine dunkle Wölfin kommt auf mich zu. Haddrice. Sie verwandelt sich, als sie direkt vor mir steht, viel zu nah.
«Es ist so weit», sagt sie, das Wolfsknurren noch in der Stimme, und berührt mit dem Finger den Mond auf meiner Stirn.
Norrock nickt seinem Rudel zu und hockt sich auf den Boden. Die Hände auf die Knie gestützt. Lässig. Anders als der Dreadlocksjunge, der rechts von ihm kniet, sorgfältig die Hände auf den Waldboden gestützt, als suche er Halt. Ich bin wieder links von Norrock. Aber diesmal ist es Haddrice, die an meiner anderen Seite Platz nimmt.
Ich lege meine kältetaube Hand auf Norrocks Lederjackenrücken und fühle, wie Haddrices Hand sich in meinen Nacken krallt. Der Kreis muss geschlossen sein, damit die Energie fließen kann, und Haddrice will mir offenbar keine Möglichkeit lassen, den Kreis zu brechen. Mir gegenüber sitzen die Wölfe, Schemen im Nebel, eng aneinandergedrückt. Die Wölfin gegenüber, ein bisschen versetzt, das scheint wieder Zrrie zu sein. Doch ich bin mir nicht sicher. Alles verschwimmt. Norrock wirft mir einen letzten Seitenblick zu. Dann verwandelt er sich und beginnt zu heulen. Unter meiner rechten Hand sticht hartes, drahtiges Fell statt Leder. Einer nach dem anderen fallen die Wölfe ein in den Gesang des Leitwolfs. Von rechts, von Norrock her, brandet wieder diese starke Macht heran wie ein lautloser, tiefer Ton. Ich versuche, sie durch mich hindurchgleiten zu lassen, weiter zu Haddrice. Erwarte, dass Haddrice, sie ist noch Mensch, mich mitnehmen will, wenn sie in die Wolfsform wechselt. So hat Norrock das damals mit Zrrie gemacht. Damals, als sie ihre Albträume nur als Wolf überstehen konnte und noch nicht wusste, wie sie sich allein verwandeln soll.
Doch Haddrice ist Wolf, bevor ich das nächste Mal atme. Ihr Fell kribbelt unter meiner Handfläche. Es ist, als bekäme ich einen elektrischen Schlag. Doch ehe ich zurückzucke, den Kreis breche, wirft sie mir die Macht, die von Norrock kommt, tausendfach verstärkt zurück. So stark, dass sie sich in mir staut und brodelt und verwirbelt und als schwarzer Pelz aus mir hervorbrechen will.
Ich muss kämpfen. Mich
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