Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
ist ein Mensch. Ein ganz normaler Mensch. Ihr müsst euch keine Sorgen machen, dass sie uns verraten könnte. Sie hat das hier», ich mache eine Handbewegung, die die ganze Etage einschließt, «für eine Studenten- WG gehalten und nicht die leiseste Ahnung, dass so etwas wie unser Orden überhaupt existiert. Trotzdem hat sie vor ein paar Tagen das getan, was eigentlich unsere Aufgabe gewesen wäre.»
Ich sage nicht «eure Aufgabe», trotzdem können sie sich vermutlich denken, was ich meine. Sie sehen mich aufmerksam an. Felix und Konstantin, die gerade ihre Köpfe zusammenstecken wollten, schenken mir wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
«Luisa hat jemanden geschützt, der angegriffen wurde.»
«Wen?», fragt Raquel. «Wo?»
«In der S-Bahn hatten drei junge Männer Lust auf Streit», beginne ich, als Adrian mich auch schon unterbricht.
«Daher hattest du die blutige Nase!» Er kennt mich ein bisschen zu gut. «Luisa ist dazwischengegangen? Und ist nicht verletzt worden? Wie hat sie das denn fertiggebracht?»
«Mit sehr viel Mut hat sie die Angreifer ausgetrickst. Sie ist nur ein Mensch. Habt ihr eine Ahnung, was sie vollbringen könnte, wenn sie eine von uns wäre?» Habt ihr eine Ahnung, setze ich in Gedanken hinzu, wie gerne ich eine wie Luisa in unserer Gruppe hätte? Eine, die begriffen hat, um was es geht?
«Nur dass sie keine von uns ist und auch nie werden wird», schneidet Adrian meinen Gedankenfluss ab. «Unsere Gabe, wie du es nennst, ist schließlich erblich.»
«Ich will nur, dass euch allen klar ist, was nachts auf der Straße passiert. Und die Menschen zu beschützen, das ist nicht Luisas, das ist unser», ich sehe ihnen der Reihe nach in die Augen, «euer Job!»
Kaum einer hält meinem Blick stand. Was ich von ihnen verlange, macht ihnen Angst. Bisher haben sie höchstens einmal Menschen mit ihren mentalen Fähigkeiten ganz sanft einen Stups in die richtige Richtung gegeben. Sie waren die Sanften, Lieben, Guten.
Jetzt sollen sie Kämpfer sein. Sie sollen nicht mehr nur sanft sein, sie sollen fühlen, wozu sie erschaffen wurden. Ich erkläre, dass ich beschlossen habe, sie mit hinauszunehmen in die Stadt, damit sie verstehen, was sich dort wirklich abspielt. Ich kann ihre Einstellung nicht mit Diskussionen und Gedankenspielchen ändern. Es ist Zeit, unsere Fähigkeiten in der Praxis auszuprobieren.
Mit einer Einschränkung. «Niemand von den Leuten da draußen darf erfahren, was wir vermögen. Wir müssen wie normale Menschen auftreten.»
«So wie du, als du dich hast zsammenschlagen lassen?», fragt Adrian. «Und das Sichwehren Luisa überlassen hast?»
«So in etwa», gebe ich zurück. «Aber da vermutlich keine Luisa auftauchen wird, die euch rettet, müsst ihr euch selbst helfen. Lasst uns durch die dunklen Straßen ziehen. Wacht über die Menschen dieser Stadt und greift nur ein, wenn es sein muss. Viele Leute mit bösen Absichten lassen sich schon abschrecken, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden.»
«Wann sollen wir patrouillieren?», fragt Konstantin.
«Von Anbruch der Dämmerung bis vielleicht drei Uhr», sage ich. «Später, wenn wir mehr Erfahrung haben und weitere Shinanim zu uns gestoßen sind, bis Sonnenaufgang.»
«Wie gut, dass wir so wenig Schlaf brauchen», sagt Selina und verdreht die Augen.
«Genau, Selina! Du brauchst so wenig Schlaf, weil du kein Mensch bist! Akzeptiere es!» Und zu den anderen gewandt, fahre ich fort: «Lasst Berlin endlich seine Schutzengel bekommen!»
Und zum ersten Mal sehe ich das Leuchten in ihren Augen. Die glühende Macht, die in ihnen schlummert. Wenn sie es jetzt noch schaffen, sich selbst zu überwinden, dann habe ich gewonnen. Dann haben wir endlich eine Chance, dass Sicherheit und Gerechtigkeit Einzug halten unter den Menschen.
Ich blicke hinauf zu dem Bild vom Erzengel Gabriel, und ich bin mir sicher, dass er lächelt.
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19. Luisa
Tausend Fragen habe ich an ihn, und dann falle ich ihm einfach nur stumm um den Hals. Klammere mich an ihn, als sei er der einzige Halt in dieser Welt, die sich viel zu schnell dreht. Thursen ist da, ist doch da, hat mich gefunden. Endlich.
«Warum, Luisa?», flüstert er. Hat die Arme um mich geschlungen und den Kopf an meinen gelehnt.
«Warum hast du mich nicht eher gefunden? Ich wollte doch kein Wolf werden!», sage ich.
«Ich bringe dich nach Hause.»
Ich mag es, wenn seine Hand meine umschließt. Er zögert nicht, fragt nicht, ob sie mich gehen lassen.
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