Schattenblüte. Die Erwählten
wie so viele große Tiere fast unhörbar dahinhuschen können. Und an noch etwas kann ich mich nicht gewöhnen. Ich rieche sie. Ich rieche nicht nur, wenn jemand direkt vor mir steht, ich rieche fast so weit, wie mein Auge reicht. Und jetzt rieche ich Aufruhr, Angst.
«Werden sie verfolgt?», frage ich Thursen.
Doch ehe er antworten kann, sind sie schon bei uns. Sind das schon alle? Wo ist der Rest? Sind sie in einen Hinterhalt geraten?
«Ich muss mit Norrock sprechen!», sagt Thursen laut. Geht zu dem schwarzen, zottigen Wolf, packt ihn am Fell und schüttelt ihn. «Ich muss mit dir reden, hörst du? Jetzt!»
Der Wolf knurrt böse. Dann streckt er sich und verwandelt sich langsam, mühsam, als wenn er sich aus einem hautengen Anzug herausschälen müsste. Sein Gesicht schwankt einen kurzen Moment zwischen Wolfsgesicht und Menschengesicht hin und her. Erst als das Flirren seines Körpers nicht aufhört, merke ich, dass er zittert.
«Und?», fragt Thursen.
«Hat geklappt.» Norrock hustet, als müsste er seine eingeklemmte Stimme befreien und spricht doch genauso heiser weiter. «Wie geplant, Edgar ist tot.»
«Was? Edgar sitzt da drin!» Ich nicke zu unserem Unterschlupf hinüber, aus dem gerade Rieke herauskommt. «Wir haben eben noch miteinander geredet!» Ich bin so erschrocken, dass ich mich selbst überzeugen will.
Norrock hält mich am Arm fest und schüttelt den Kopf. «Edgar ist den bösen Wölfen in die Hände gefallen, und irgendwann wird man eine mittlerweile total aufgequollene Leiche finden, die Edgars Jacke trägt, mit Edgars persönlichen Sachen drin. Was, meinst du, denken die Shinanim dann wohl?»
«Scheiße! Norrock, du kannst doch nicht einfach seinen Tod vorspielen! Edgar hat Eltern und zwei Schwestern! Hast du mal an die gedacht?»
«Denkst du, es wäre besser, sie wüssten, dass er sich in einen Wolf verwandelt hat und auf der Flucht ist?»
In diesem Moment kommt Edgar aus dem Unterschlupf. «Wo ist Zrrie?», fragt er.
«Zrrie hat wen gefunden. Polmeriak und Glowen tragen ihn her. Du musst dich darum kümmern, Thursen.»
«Das kann Luisa machen. Ich muss mit dir reden. Wir haben Elias getroffen. Er hat an den Trauerbäumen auf uns gewartet.»
«O Mann!» Norrock klopft Thursen auf die Schulter, dass ich schon beim Zusehen zusammenzucke. «Weißt du, langsam gehen mir die Ideen aus, die Leichen verschwinden zu lassen.» Norrock versucht lässig zu tun, doch ich sehe, dass er immer noch an Thursens Schulter hängt.
«Er ist nicht tot. Norrock, verdammt! Es ist wichtig!»
«Na los», sage ich. «Geht und plant unsere Flucht.» Thursen zieht warnend die Augenbrauen hoch, und ich korrigiere mich rasch. «Oder was auch immer. Ich bleibe hier und helfe Zrrie, wenn sie kommt.»
Norrock lässt Thursens Schulter los, nickt mir zu und schafft es gerade noch, in seine Wolfsgestalt überzuwechseln, ehe er auf die Knie gesunken wäre.
«Danke», sagt Thursen und drückt mich an sich.
Ich lege meine Hand an seine kalte Wange. «Geh.»
Thursen trabt los, immer noch nicht ganz fit, es tut mir fast weh zu sehen, wie er immer noch seinen verletzten Arm hält. Wir Menschen heilen so langsam. Norrock begleitet ihn als schwarzer Wolf.
Edgar sieht ihnen nach. «Sag mal, Luisa, was läuft hier eigentlich?»
«Zunächst mal: Du bist tot. Dafür haben die Werwölfe gesorgt.»
«Ja, ich weiß. Für die Shinanim bin ich tot. Ich war so stolz darauf, zu ihnen zu gehören. Weißt du, dass ich immer so sein wollte wie Elias? So mutig und klug und hat so früh schon Verantwortung übernommen. Ich dachte, wenn ich meine Angst überwinde und zu euch ins Lager gehe, dann beweise ich allen, dass ich nicht nur ein kleiner dummer Novize bin. Und jetzt? Die Schatten werde ich nie wieder los. Statt meinen Mut zu bewundern, würden meine Ordensleute sich vor mir ekeln. Ja, du hast recht. Für sie bin ich tot.»
«Meine Güte, Edgar, das meine ich nicht. Die Werwölfe haben Lurnak deine Jacke angezogen, damit es aussieht, als wäre er du.»
«Sie wollten meinen Tod vortäuschen? Der war doch viel älter als ich, das sieht man doch sofort!»
«Nach ein paar Wochen im Wasser vermutlich nicht mehr!»
«Igitt!» Die Tatsache, dass bald alle Welt glauben wird, er sei tot, scheint ihn nicht weiter zu stören. Stattdessen sieht er sich suchend um. «Wo ist eigentlich Zrrie? Wieso ist sie noch nicht zurück?»
«Sie kommt doch gerade!» Ich rümpfe leicht die Nase, als ich Zrries Geruch aus der Waldluft atme.
«Wo?
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