Schattenblüte. Die Erwählten
paar hundert Meter vom Haus der Shinanim entfernt am Straßenrand anhalten. Weil unsere sogenannte Feste geheim bleiben soll, hätte sich für ein unangemeldetes Taxi die Schranke sowieso nicht geöffnet. Ich bezahle, lasse einen mit Schal und Mütze vermummten Radfahrer vorbeizischen und steige aus. Der Winter haucht mir seine Kälte ins Gesicht. Wo Luisa jetzt wohl ist? Wie schnell sind die Wölfe? Wenn die Shinanim sie einholen, wird sie dann an der Seite der Werwölfe kämpfen, auch ohne deren Kraft zu besitzen? Es wird sie töten. Meine Leute werden sie töten. Sie kann nicht das Glück und die Unverschämtheit von Thursen besitzen, der sich tatsächlich als Mensch in einen Kampf der Werwölfe gegen die Shinanim gestürzt hat und trotzdem noch lebt. Er ist nicht der arrogante Idiot, für den ich ihn gehalten habe, zu überheblich, um sich zu verwandeln. Er ist in Wahrheit der Verrückte, der nicht wahrhaben will, dass der Kampf der Werwölfe nicht mehr seiner ist. Und was das Seltsamste ist: Ich hätte an seiner Stelle ganz genauso gehandelt. Nach ein paar Minuten betrete ich das Shinanim-Gelände. Mein Blick geht am Hauptgebäude hinauf. Da irgendwo sitzen sie und wissen ganz genau, dass ich komme.
Ich werde von Felicity freundlich begrüßt, die wie zufällig in der Eingangshalle steht. Was sollte sie hier zu tun haben – die vergoldeten Engelstatuen in der Vitrine abstauben?
«Hallo, Elias! Vittorio sucht nach dir.» Sie lächelt mich an. «Du solltest zu ihm gehen!»
«Sofort. Ich muss mich nur erst umziehen», sage ich. Ich möchte nicht erklären müssen, wieso der Flicken von meinem Pullover heruntergerissen ist und ich den GPS -Sender stattdessen in der Tasche trage.
«Elias! Endlich!», begrüßt mich Vittorio, als ich wenig später seinen Raum betrete.
Ich habe das Hemd an, das ich eigentlich bei dem Vortrag tragen wollte. «Es gibt Neuigkeiten?»
«Ja. Zunächst einmal haben wir jetzt endlich leistungsfähigere Wärmesuchgeräte, die auf einen Abstand von 300 Metern einen Menschen oder einen Wolf sicher erkennen können. Leider fallen sie unter das Kriegswaffenkontrollgesetz, daher war die Beschaffung etwas schwieriger. Doch die, die wir bisher hatten, taugen vielleicht, um Waldbrände zu erkennen, aber nicht für unsere Zwecke. Wir hätten die Werwölfe längst finden müssen.»
«Wir rüsten also auf?»
Er nickt. «Das hier wollte ich dir eigentlich zeigen. Es wird dir gefallen. Sieh, wie es funktioniert.» Er nimmt eine klotzige Bildschirmbrille, tippt einen Sensor daran an und lässt sie mich aufsetzen.
«Und?», höre ich Vittorios Stimme.
Die Brille blendet alles rundherum aus, das Zimmer verschwindet. Was ich dann sehe, lässt mich automatisch haltsuchend nach vorne greifen. Ich schwebe über dem Grunewald. Ich sehe keinen Film, ich bin da, bin ein Vogel, der über dem Grunewald kreist. Unter mir gleiten die Bäume hinweg. Ich ziehe Kreise, gehe tiefer und verfolge einen Waldweg. Ein Auto mit Krähen auf dem Dach, abgestellt auf einem Parkplatz. Ein kleiner Teich, schilfbewachsen, Enten, die auf dem Eis watscheln. Das ist es. Wäre ich ein Engel mit Flügeln, ich sähe die Welt so. «Was ist das?», frage ich und genieße noch ein paar Augenblicke das Gefühl, tatsächlich zu fliegen. Wie wunderbar wäre es erst, wenn ich selbst steuern könnte, was ich sehe. «Woher stammen die Bilder?»
«Die Bilder, die du siehst, senden uns die Kameras einer Minidrohne, eines kleinen unbemannten Quadrocopters, der in diesem Moment durch den Grunewald fliegt.»
Zwei Kameras, daher also der Eindruck, ich würde räumlich sehen. Widerwillig nehme ich die Brille ab. «Was ist ein Quadrocopter?»
«Eine Art Minihubschrauber mit vier Rotoren.» Vittorio dreht seinen Laptop zu mir und schaltet von dem Luftbild auf so etwas wie eine metallene Flugspinne. «Dieser hier heißt übrigens AirRobot. Die Polizei und die Bundeswehr haben ähnliche Geräte im Einsatz.»
«Beeindruckend.»
«Ja, nicht? Was du eben gesehen hast, war ein kurzer Test, um zu sehen, wie der AirRobot mit den Minustemperaturen klarkommt.»
«Damit jagen wir die Werwölfe?»
Vittorio nickt zufrieden. «Damit bringen wir die Werwölfe endlich zur Strecke.»
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49. Luisa
THURSEN und ich haben gerade unseren Unterschlupf verlassen, da kommen die Wölfe in unser Behelfslager gejagt. Viel zu leise und viel zu schnell sind sie, man hört kaum das Rascheln unter ihren Pfoten. Ich werde mich nie daran gewöhnen,
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