Schattenblüte. Die Erwählten
aufzustehen und loszulaufen. Ich dachte, Norrock hätte Mitleid und wäre etwas verständnisvoller. Vielleicht ist er es sogar, doch er zeigt es nicht. Den Jungen zurückzulassen, damit er seinen Selbstmord doch noch durchzieht, wäre genauso falsch gewesen, wie das Rudel noch länger am gleichen Platz warten zu lassen. Zrrie war es schließlich, die dem Jungen versprochen, nein, geschworen hat, dass er bei nächster Gelegenheit verwandelt wird. Dass er danach seinen Schmerz für immer los wird und die Erinnerung an sein ganzes Leben wegschmilzt wie der Schnee der letzten Wintertage.
Ich trabe, atme im Takt mit meinen Schritten und denke dabei daran, was für ein Leben das wohl sein mag, dessen Spuren ausgelöscht werden. Wer war er, wie hat er gelebt? Ich weiß nicht mal seinen Namen, an den er sich bald auch nicht mehr erinnern wird.
Norrock treibt uns an. Jagt um uns herum in seiner Wolfsgestalt und beißt nach unseren Fersen wie ein Schäferhund, der seine Herde vorwärtsjagt. Thursen blickt nach oben in die Bäume. Ich folge seinem Blick. Dass da Krähen sitzen, wundert mich nicht mehr. Sie sind jetzt überall. Wir steigen über einen vermoderten Baumstamm, über den die Wölfe leichtfüßig hinwegsetzen, rutschen einen Abhang hinunter, laufen weiter. «Schneller», sagt Thursen und übersetzt Norrocks Wolfsworte für uns Menschen. Dabei keucht er selber. Er winkt mit dem Arm, legt an Tempo zu und schiebt sich weiter nach vorn.
Ich laufe neben Rieke, zwischen uns der fremde Junge. Seine Wangen sind brennend rot, vielleicht zum letzten Mal in seinem Leben. Bald wird er zum Werwolf und blass sein wie sie. Wenn die Shinanim uns nicht vorher erwischen. Rieke läuft, so gut sie kann. Die Arme angewinkelt, keucht sie kleine Atemwölkchen hervor im Rhythmus ihrer Schritte. Zuerst blieb sie weit zurück, doch jetzt trägt Mauriks ihren Rucksack für sie. Eine Weile wird er als Mensch traben, dann wieder zum Wolf werden und den Rucksack an den nächsten weitergeben. Rawuhn, der helle Wolf, läuft vorn neben Thursen. Thursen muss ich nicht suchen, ich sehe ihn immer sofort, mein Blick rutscht wie von selbst zu ihm. Thursens Schritte sind ungleichmäßig lang, und ich ahne, dass er Schmerzen hat. Doch er kämpft verbissen und wird nicht langsamer. Ich drehe mich zu Edgar um, der neben Zrrie läuft. Wie lange hält er noch durch? Ob sie ihn weiterzwingen, wenn er zusammenbricht? Er war so schlecht in Sport, damals in der Schule. Doch Edgar läuft einfach, mühelos, den Blick auf die schwarze Wölfin neben sich gerichtet. Und wieder habe ich vergessen, dass er kein Mensch, sondern ein Shinan ist. Wahrscheinlich könnte er, wenn er wollte, schneller sein als wir alle. Also sind wir Menschen, Thursen, Rieke, ich und der Neue es, die die Wölfe aufhalten. Selbst die Krähen über uns halten mühelos mit. Ich versuche, so schnell zu sein, wie ich kann. Versuche, das Seitenstechen auszublenden, noch ruhiger und gleichmäßiger zu atmen. Weiterzulaufen, als wäre mein Körper eine Maschine, die von selbst im Takt meine Füße auf den Boden setzt. Rechts, links, rechts, links, und doch weiß ich, wir sind viel zu langsam. Irgendwann werden sie uns einholen. Wenn sie erst einmal eine Spur haben, wissen, wo wir sind, dann sind sie so viel schneller als wir. Irgendwann werden wir ihre Schritte hinter uns hören. Ich wage es kaum, mich umzudrehen, halte meinen Blick nach vorne gerichtet, auf Thursens Rücken, seine schwingenden Arme, die fliegenden Haare.
Plötzlich kreischen die Krähen über uns auf. Erbost flattern sie durcheinander. Was ist? Als ich mein Keuchen bezwingen kann und mir das Blut nicht mehr in den Ohren rauscht, höre ich es. Keine Schritte. Nicht hinter uns. Über uns surrt es in den Zweigen. Das ist kein Tier, das ist etwas Fremdes, eine Maschine, aber keiner der vertrauten Hubschrauber. Wir alle werden langsamer, fasziniert und erschreckt von dem Ding da über uns. Es ist ein Gestell aus Metallgitter, nicht sehr groß, ein kleiner Körper und vier Spinnenbeine, an deren Enden Rotoren sitzen, mit denen es sich wie mit Saugnäpfen in den blaugrauen Himmel klebt. In weitem Bogen fliegt es auf uns zu, zerquirlt die Winterluft. Es trägt etwas. Unter seinem Bauch hängt etwas Dunkles. Irgendeine Art Kasten.
«Da!», ruft Thursen und reißt seinen Arm nach oben. «Das ist eine Drohne! Diese verfluchten Shinanim!»
«Was jetzt? Verstecken?», ruft Irudit und sieht sich hektisch um.
«Nein! Diesmal nicht! Die haben
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