Schattenblüte. Die Erwählten
uns schon gesehen.» Thursen hebt einen Stein und wirft ihn nach oben.
Als der Flugapparat tiefer geht, sehe ich, was er meint. Der Kasten, der unter dem Flugapparat hängt, ist eine Kamera. Ihr Doppelauge dreht sich, sucht uns, weiß nicht, wem von uns es folgen soll.
Thursens Stein flog nicht hoch genug und plumpst ein paar Meter weiter zu Boden. Verdammt!
«Helft Thursen! Holt sie runter!», ruft Norrock, plötzlich Mensch. Er packt Edgar beim Arm, zieht ihn in ein Gebüsch. «Da bleibst du! Vergiss nicht, dass du tot bist! Auf eine Rettungsaktion habe ich nun gar keine Lust!»
Ich schleudere einen schnell zusammengekratzten Schneeball nach dem verfluchten Flugobjekt. Wenn ich die Kamera schon nicht vernichten kann, kann ich ihr vielleicht wenigstens so viel Schnee ins Auge kleben, dass sie blind wird. Ich treffe sogar, doch nur einen der Rotoren, der meinen Schneeball wie ein rotierendes Messer in schmutzig weiße Fetzchen zerlegt. Wieder nichts. Auch Mauriks’ Geschoss geht ins Leere. Die Drohne kippt zur Seite, wendet und zieht hoch zwischen die Spitzen der Baumkronen. Hängt dort am Himmel zwischen den flatternden Krähen. Starrt uns an.
«Scheiße, die beobachten uns!», knurrt Norrock. Ich stelle mir vor, wie die Shinanim uns auf dem Bildschirm sehen, wahrscheinlich mit genauen Positionsdaten. Dort sitzen sie jetzt mit vor Freude feuchten Händen und gierig sabbernden Mündern, weil sie uns endlich entdeckt haben. Wir werfen weiter, doch es ist sinnlos, das Ding fliegt zu hoch.
Norrock hebt trotzdem noch einen Stein auf, doch bevor er ihn hochschleudern kann, stockt er. Wir bekommen plötzlich Hilfe. Das kann jetzt nicht sein, oder? Die Krähen, die schwarzen, unheimlichen Krähen greifen an, hacken eine nach der anderen mit ihren Schnäbeln nach dem Flugapparat. Bringen immer wieder den Rotor zum Stocken, bis die Shinanim zum ferngesteuerten Ausweichen gezwungen sind, damit ihr Gerät nicht abstürzt. Die Krähen lassen nicht locker. Sie flattern mit den Flügeln, kreischen mit ihren heiseren Hexenstimmen in die bestimmt eingebauten Lautsprecher und drücken die Flugmaschine noch tiefer, bis sie in unserer Reichweite ist. «Jetzt!», schreit Thursen. Wir werfen mit allem, was wir haben. Der Neue schleudert einen Stock hoch. Irudit trifft mit einem Tannenzapfen aus Versehen eine Krähe, doch Mauriks schafft es, mit einem Stein das Objektiv der Kamera einzuschlagen. Das Fluggerät macht hektische Bewegungen. Wer sitzt da irgendwo in einem Büro am Computer und will uns vernichten? Wer steuert? Das Gerät trudelt. Norrock wirft vorbei, doch Irudit holt die Drohne schließlich herunter mit einem Stock, der die Rotorblätter endgültig blockiert.
«Zerschlagt das Teil!», sagt Norrock. «Alles. Die ganze Scheißelektronik, die Mikrophone, Sender und was da noch dran ist! Lasst ja nichts übrig!»
Als wir fertig sind, tritt Norrock persönlich noch einmal auf den Schrotthaufen und zermalmt die letzten Splitter unter dem Absatz seiner klobigen Stiefel. «So, und jetzt horcht, ob noch mehr davon da sind.»
Einen Moment sind sie still.
«Also, ich höre nichts», sagt Irudit. «Ihr?»
«Auch nichts», bestätigt Mauriks.
Ich höre auch nichts, weiß aber, dass die Ohren der Werwölfe meinen immer noch weit überlegen sind. Also zählt mein Urteil nicht.
«Dann, los!», sagt Norrock. «Weiter.»
Norrock ist wieder schwarzer Wolf und setzt sich diesmal an die Spitze. Die Pause, die keine war, hat mich zwar wieder zu Atem kommen lassen, aber nachdem ich jetzt so kalt geworden bin, ist es trotzdem schwer, wieder loszulaufen. Meine Muskeln sind verspannt, und meine Knie wollen sich nicht biegen. Ich brauche eine Weile, bis ich meinen gleichmäßigen Trabrhythmus wiedergefunden habe. Es beginnt zu schneien. Aus dem tiefhängenden Himmel, der aussieht wie eine aus Blei geschmiedete Kuppel, tanzen Kristalle herab. Ich renne weiter, wische mir die Kälte von der Nase und blinzele die Schneeflocken aus den Augen. Das geht so lange gut, bis Norrock uns einen Weg überqueren lässt, der tief in das Gelände eingekerbt ist. Hinunterklettern, auf der anderen Seite wieder hinauf, dann stolpere ich nur noch.
«Geht’s noch?», fragt Thursen an meiner Seite.
Ich schüttle den Kopf. Bin zu atemlos zum Reden. Meine Füße verfangen sich in jeder unter der weißen Schicht verborgenen Vertiefung. Polmeriak ist längst in Menschengestalt und zieht den Neuen stolpernd mit sich. Glowen, auch Mensch, hilft Rieke mit ihren
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