Schattenblüte. Die Erwählten
Sachen.
Wie viele von diesen Flugdingern haben die Shinanim noch? Wie lange dauert es, bis sie uns wieder aufgespürt haben?
Ich dachte, wir könnten laufen, einfach weiterlaufen und dann in einer der kommenden Nächte die Oder überqueren und Deutschland verlassen. Doch die Oder ist auf einmal unendlich weit entfernt.
Und gerade, als ich denke, ich kann keinen einzigen Schritt mehr weiter, lässt Norrock uns anhalten. Inzwischen ist der Schneefall so dicht geworden, dass ich außer Stämmen und dem hellen Himmel nichts mehr erkennen kann. Nur das Krächzen der Krähen dringt wieder und wieder durch den Vorhang aus Flocken. Wenn wir Glück haben, sind auch die fliegenden Kameras der Shinanim bei dem Wetter nutzlos.
Wo sind wir? Ich sehe mich um, blinzele die Schneekristalle von meinen Augenwimpern und erkenne auf einmal das steinerne Bogentor mit den geschlossenen Torflügeln. Auf dem kleinen Dach darüber liegt schon ein Wulst aus Schnee. Genauso wie auf der Mauer aus Quadersteinen, die sich nach rechts und links an das Tor anschließt. Wir sind nicht zufällig hier, Norrock hat uns bewusst hergeführt. Wir sind am Friedhof. An dem Friedhof der Namenlosen, dem alten Selbstmörderfriedhof mitten im Grunewald, auf dem wir die tote Sjöll begraben haben.
«Hier sind wir?», frage ich. Wir haben doch keine Zeit! Wir müssen nach Osten, weg aus Berlin, weg aus Deutschland! Weg von den Shinanim. «Nachdem wir den ganzen Tag gerannt sind, sind wir noch nicht weiter? Das kann doch nicht euer Ernst sein!»
Thursen legt den Arm um mich. «Luisa, die Shinanim suchen nach uns mit allem, was sie haben. Du hast die Drohne gesehen und die Hubschrauber gehört. Wenn wir geradeaus nach Osten gelaufen wären, hätten sie das gemerkt und uns irgendwann abgefangen. Wir mussten in Bewegung bleiben, immer wieder die Richtung ändern, damit wir hierherkommen konnten, bevor sie hier sind.»
Thursen will mich beruhigen. Doch ich will mich nicht beruhigen. Ich will nicht hören, dass alles umsonst war. «Was wollt ihr denn hier?», frage ich.
«Das Silber hat dich in der Wolfsform festgehalten», sagt Norrock. «Jetzt befreien wir Sjöll.»
Sjöll wollte immer nur Wolf sein, ganz Wolf sein, das hat sie mir damals erzählt. Als Wölfin ist sie gestorben, und als Wölfin wurde sie hier heimlich begraben. «Warum wollt ihr sie jetzt befreien?»
«Weil die Shinanim uns jagen und wir vielleicht alle sterben. Dann soll sie mit uns kommen ins Totenreich und nicht mehr ans Tor gebunden sein», sagt Norrock, verwandelt sich in einen Wolf und springt in einem riesigen Satz über die Friedhofsmauer.
Wir anderen folgen, so gut wie wir können. Auf dem Friedhof stehen schneeverhangene Büsche, Bäume und Grabsteine wie dunkle Schachteln in einem weißen Meer aus Schnee. Der schwarze Wolf Norrock weiß trotzdem, wo entlang er gehen muss. Er erkennt den Busch wieder, unter dem seine tote Freundin liegt.
«Moment mal, wie wollt ihr sie denn befreien?», frage ich. Und dann weiß ich es auch ohne Antwort. Die Wölfe beginnen zu graben. Erst fliegt der Schnee in einer Wolke beiseite, dann kratzen sie mühsam und hartnäckig am gefrorenen Erdreich.
«He, komm her!», befiehlt Norrock Edgar. Und Edgar hält seine Hände über die Erde. Erst hilflos und sinnlos, dann, als er frustriert neben dem Busch kniet und Zrrie den Wolfskopf auf seine Schulter legt, läuft ein Schauer über ihn. Es kommt auf einmal Hitze aus seinen Handflächen, die den restlichen Schnee zu kleinen Pfützen zerlaufen lässt. Und dann taut er Schicht für Schicht eine Fläche auf, groß wie ein Buch. Groß genug, dass die Wölfe, wieder in Menschen verwandelt, hindurchgreifen können bis in die lose Erde. Gemeinsam reißen sie mit ihren Händen Brocken aus der vereisten Bodenschicht heraus. Ich versuche zu helfen, doch Thursen zieht mich einen Schritt zurück. Ich bin ihm dankbar, Gräber öffnen ist nichts für mich. Die anderen graben mit ihren Wolfspfoten weiter, tiefer. Bis sie auf Fell stoßen. Sjölls Fell. Mich schaudert. Sie graben sie ganz aus und legen sie in den Schnee. Sie lag so kühl in der Erde, dass ihr ganzer Körper äußerlich unversehrt erscheint. Als hätte Schneewittchen in einem Glassarg geschlafen. Ihr toter Körper sieht aus, als könnten wir die fatale Kugel des Jägers aus ihrem Körper herausholen wie den verschluckten Apfel aus Schneewittchens Hals und sie wecken. Doch das können wir nicht.
Norrock nimmt seine Menschengestalt an. Er hockt neben
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