Schattenblüte. Die Erwählten
verlaufen.»
Vittorio bedankt sich. «Sind sie oben?»
«Ja, folgt mir.» Der Mann geht voraus durch die Eingangshalle. An zwei Wänden hängen Reliefs. Zwischen Kübeln mit Grünpflanzen steht eine Vitrine. Der Engel darin auf seinem goldenen Podest scheint mich anzusehen, als zweifle er an mir. Ich wäre gerne stehen geblieben, um mich zu überzeugen, dass der Gesichtsausdruck des Engels nur in meiner Einbildung vorhanden ist, aber Vittorio setzt eilig seinen Weg fort. «Danke, wir finden unseren Weg allein», sagt er zu dem Mann in Livree, als der Vittorio zu den Fahrstühlen leiten will. Kennt Vittorio sich hier aus? Ich dachte, er würde dieses Gebäude zum ersten Mal betreten. Doch wahrscheinlich unterschätze ich immer noch Vittorios Macht, vermutlich hat er den Bauplan für die Gebäude selbst vorgegeben.
Am gegenüberliegenden Ende der Halle führt eine Treppe mit breiten Stufen aus dunklem Holz hinauf.
«Ich mag Aufzüge nicht, dem Himmel soll man aus eigener Kraft entgegenschreiten», sagt Vittorio. Esther, Jordan und ich folgen ihm aufwärts.
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14. Luisa
ICH richte mich auf. Ich bin in einem kahlen Raum mit weißen, glatten Wänden. Überall hängen Engelsbilder. Licht kommt von oben. Der Raum hat nur eine Tür, keine Fenster.
Ich sehe benommen zu den beiden Gestalten hin, die mich mit brennenden Blicken ansehen. Jaule automatisch, weil mich ihre Blicke so schmerzen. Ein Mann und eine Frau. Der Mann richtet seine Stange mit Silberspitze auf mich. Ich weiß nicht, ob ich sie zerbeißen könnte, wäre ich Wolf. Soll ich mich verwandeln? Ich lecke die Lippen und spüre meine Wolfszähne. Meine Haut juckt dort, wo sie zu Fell wird. Meine Finger kribbeln, die Krallen wollen durchbrechen.
Die Frau starrt mich an. «Raus hier!», schreit sie. «Schnell, bevor sie sich verwandelt!»
Der Mann lässt die Stange klappernd zu Boden fallen. Und mit ihren verschwommen schnellen Bewegungen verlassen die beiden den Raum. Die Frau schlägt eine große wuchtige Tür hinter sich zu.
Ich laufe ihnen nach, doch die Tür lässt sich nicht öffnen. Natürlich nicht. Ein Guckfenster ist in der Tür, ich drücke mein Gesicht dagegen, blicke direkt in grelle Augen, dann wird ein Brett vorgeschoben.
Verdammt! Ich trete mit dem Fuß gegen das Holz, doch die Tür ist schwer und gibt so wenig nach wie ein eingewurzelter Stamm. Ich gehe ein paar Schritte und lasse mich dann einfach irgendwo an der Wand zu Boden sinken. Meine Kraft ist restlos erschöpft. Es gibt nichts zu essen und nichts zu trinken. Keine Stühle, keine Möbel, nicht einmal einen Teppich. Nur ein riesiges, silberbeschlagenes hölzernes T, das aussieht wie ein geköpftes Kirchenkreuz. Ich bin gefangen. Statt in der Kiste, die immer noch geöffnet mitten im Raum steht, stecke ich jetzt nur in einer größeren Gefängniszelle, aus der ich mich noch weniger befreien kann.
Ich reibe mir die Tränen aus den Augen. Früher, in meinem Menschenleben habe ich viel geweint, sagt Thursen. Er muss es wissen, ich kann mich nicht mehr erinnern. Er weiß so viel mehr über mich als ich selbst. Ich schließe die Augen und ziehe die Luft ein. Es riecht nach der alten staubigen Kiste und den schneeklaren Fremden mit den brennenden Augen. Kein Hauch Haddrice. Nichts Vertrautes kann ich riechen, keinen Waldgeruch, keinen Baum, kein Laub, kein Feuer. Hier scheint es nicht einmal normale Menschen zu geben. Menschen so wie Rieke, die zu den Werwölfen gehört und sich dennoch nicht verwandeln will. Sie brachte Thursen und mir zu essen. Thursen. Ich sehne mich so sehr nach Thursens vertrautem Geruch, dass es mir das Herz abschnürt.
Hätte dieser verdammte Raum doch wenigstens ein Fenster und nicht nur dieses Oberlicht, das aus der Decke auf mich herabglotzt! Der Boden, auf dem ich sitze, ist steinkalt, glatt und glänzend wie altes Eis. Ich zwinge mich hoch, schaue mir die Wände an, ganz genau. Ich klopfe sie ab, lege die Hände darauf, kratze halb verwandelt mit Wolfskrallen darüber. Weiß sind sie und hart, als ob es Felsen wären. Eingemauert könnte ich nicht fester eingeschlossen sein. Vor der Kistenöffnung liegen lange, schmale Ketten aus Silber, ausgebreitet auf dem Boden. Bereit für mich.
Wütend gehe ich zu dem Etwas, diesem Kreuz aus nachtdunklen Balken. Wütend trete ich dagegen und schlage auf das Silberblech, mit dem die Enden ummantelt sind. Ich glaube keinen Moment lang, dass das Schmuck sein soll. Silber bannt Werwölfe, sagen die
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