Schattenblüte. Die Erwählten
werden wir ihnen folgen wie Schatten und jeden ihrer Angriffe beenden, noch ehe er begonnen hat.»
Wir biegen links ab. Hier steht keine Ampel, aber wie zufällig versperrt ein Lieferwagen den entgegenkommenden Autos den Weg. Mir fällt die unglaublich günstig platzierte Baustelle ein, an der wir eben vorbeigerast sind. Das und die immer auf Grün springenden Ampeln. Wir brauchen keine Polizeieskorte und keine offiziellen Straßensperren, wir sind offenbar subtiler, wenn es darum geht, schnell voranzukommen. Ich wusste, dass der geheime Orden der Shinanim mächtig ist, aber ich habe mir nie klargemacht, dass unser Arm so weit reicht.
«Du hast diesen Werwolfsanführer später noch einmal gesehen?»
«Thursen? Ja. Als wir gegen die Werwölfe auf dem Teufelsberg gekämpft haben.»
«Und ihr wart wieder unterlegen. Doch meinen Informationen nach hast du mir nicht alles erzählt. Gab es da nicht noch eine Begegnung?»
Woher weiß er das? Wer hat ihm davon erzählt? Aber leugnen nützt nichts. «Ja, das stimmt. Thursen kam in unsere Wohnung am Kurfürstendamm.»
«Einfach so? Ein Werwolf kommt zu eurer geheimen Wohnung, und ihr öffnet ihm bereitwillig die Tür? Wie konnte er überhaupt wissen, wo er euch findet?»
«Er wusste es nicht. Es war Zufall. Er wollte ein Mädchen sehen, das wir in unserer Wohnung aufgenommen hatten.»
Vittorio nickt. «Danke, jetzt sehe ich klarer. Ich denke, wir sind gleich da.»
Und noch einmal biegen wir ab, wir scheinen die Innenstadt zu umgehen.
«Wohin genau fahren wir eigentlich?» Von einer Shinan-Feste hier in Berlin habe ich noch nie gehört. Ich dachte, ich würde alle Standorte des Ordens kennen.
Vittorio lächelt. «Du wirst überrascht sein.»
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12. Luisa
MIR ist so kalt. Ich zittere vor Kälte und Angst. Ich vermisse mein Fell und hasse die kratzigen, dicken, steifen, feuchten Klamotten, die kein bisschen ich sind. Thursen hat sie mir vor meiner Flucht so hastig wieder über meinen wunden Körper gestreift. Als Mensch kann ich mich in diesem Kasten erst recht nicht bewegen, bin von den Netzen eingesponnen wie eine Fliege im Spinnennetz. An den Wunden spannt schmerzhaft die Haut, jetzt, wo ich gekrümmt im Dunkel kniee. Wenn ich die Hände strecke, kann ich meine Fingerspitzen durch die Netzmaschen schieben und die Holzplanken der Transportkiste ertasten. Altes Holz, totes Holz, das schon lange kein Baum mehr ist. Wo bin ich hier bloß? Ich lausche den Schritten und den Stimmen um mich. So eng hier. Wäre ich noch Wolf, würde ich meine Ohren nach den Geräuschen drehen und besser hören. Doch als Mensch kann ich den Sinn der Worte verstehen. Ich muss Mensch bleiben. Das ist meine einzige Chance, zu verstehen, was hier passiert.
«Bist du so weit?», ruft eine Frauenstimme. Sie spricht jemanden an. Mindestens zwei sind es also.
Alles ist so schrecklich eng. Die Kiste, das Netz um meine Arme und Beine und die Decke über der Kiste, die mir Licht und Luft abschneidet. Ich zerre am Netz. Ich will raus. Muss raus! Raus! Ich erschrecke, als aus meiner Kehle ein tiefes Wolfsgrollen dringt. Ruhig!, versuche ich mir zu sagen. Wenn ich die Arme ganz eng an den Körper lege, kann ich sie unter dem Netz nach oben schieben und mit den Fingern das Seil an meinen Schultern ein wenig lockern. Endlich erwische ich den Knoten. Ich zupfe, zerre, schiebe daran herum und löse ihn.
«Ich bin bereit», antwortet eine Männerstimme. «Alles gesichert. Hast du die Ketten?»
Schnell jetzt. Seitwärts lasse ich mich gegen die Kistenwand rutschen, winde mich und kann das Netz lockern. Zuerst ramme ich nur schmerzhaft und sinnlos die Ellbogen gegen die Wände. Dann bekomme ich endlich die Arme frei. Was sind das für Ketten, von denen die da draußen sprechen?
«Sicherst du mich?» Wieder die Frau. «Hast du die Stangen? Dann ziehe ich den Wolf jetzt raus.»
Ich habe meine Beine frei gestrampelt, das Netz abgestreift und mich direkt hinter der Kistentür zusammengekauert. Ich, ich bin der Wolf, von dem sie sprechen. Los, kommt her und lasst mich raus! Ich mag dunkle Höhlen, doch das hier ist ein Sarg.
Schritte um mich, schnell und bestimmt.
Ich muss mich endlich aufrichten und strecken. Jeder Muskel in mir schmerzt, ich bin blau und wund von all den Malen, die ich beim Transport gegen die Wände der Kiste gedonnert bin. Wieder tobt Heilung durch mich. Und der Hunger ist zurück.
«Vorsichtig! Pass auf, dass du sie nicht ungeschützt berührst. Es soll ziemlich
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