Schattenblüte. Die Erwählten
tatsächlich für den Moment die Luft angehalten habe, als ich den Schieber zurückschob. Jetzt kann ich immer noch hoffen, dass Luisa den letzten Schritt nicht gegangen ist, dass sie sich nicht vollständig in eins von diesen Wesen verwandelt hat. Denn diese Werwölfin da drin ist jemand anders. Ich habe das Gesicht schon mal gesehen, ihre grausige Verwandlung von einem Wolf in einen Menschen und wieder zurück miterleben müssen. Mir fällt sogar ihr Name ein. Haddrice hat Thursen sie genannt.
«Willst du nicht zu ihr hineingehen?», fragt Vittorio. «Sie ist sicher gebunden.»
Nein, das will ich nicht. Ich will diesem grotesken Wesen nicht näher kommen, als ich muss. Doch es gibt keinen vernünftigen Grund für mich zu zögern, so schließe ich das Guckfenster und öffne entschlossen die Tür.
Ich hoffe, ihre Fesseln halten. Das Klicken des Schlosses reicht, damit sie den Kopf zu uns dreht. Oder hört sie sogar meinen Atem? Stimmen die Gerüchte über das hypersensible Werwolfsgehör? Als die Gefangene mich erblickt, wirft sie ihren Kopf zurück und knurrt mit gefletschten, weißen Raubtierzähnen. Sie ist außer sich. Sie zittert, schreit und heult. Sie knurrt, ist nur halb menschlich – obwohl sie Arme hat und Beine.
«Das tut sie schon die ganze Zeit», sagt die Shinan. «Wir wissen nicht, wie wir ihr noch helfen sollen.»
Die Werwölfin knurrt uns an. Nie habe ich einen Menschen gesehen, der so unmenschlich war. Wut, Hass und Gier nach Blut sind fast greifbar um sie, schwarz wie Teer. Ich muss mich zwingen, Schritt für Schritt in den Raum hineinzugehen. Ja, ich gebe zu, sie macht mir Angst. Angst wie ein Mutant, wie eine Schreckgestalt in der Geisterbahn. Ich fühle mich wie in den alten Spielfilmen, wenn man erwartet, einen Menschen zu sehen, und die Person die Maske vom Gesicht zieht und kein bisschen menschlich mehr ist. Nein, das ist keine Angst. Angst ist, wenn man weglaufen will. Das hier ist Grauen, das man nicht abschütteln kann und das einen bis in die Träume verfolgt.
Der junge Shinan tritt ebenfalls in den Raum, bleibt aber nach zwei kurzen Schritten bei einem Tischchen stehen. Ein Trinkglas und ein gefüllter Kristallkelch stehen darauf. «Wir haben gehofft, dass das Himmelswasser ihr hilft, der Verwandlung zu widerstehen», sagt er und füllt das Glas. «Doch sie weigert sich zu trinken.» Er wirft der Werwölfin einen vorsichtigen Blick zu. Himmelswasser ist Regenwasser, das aufgefangen wird, bevor es die Erde berührt. Reines, unverfälschtes Wasser voller Licht. Wird es ihr helfen? In den alten Legenden heißt es, Werwölfe scheuen Wasser.
Der Shinan hat das Glas gefüllt und wartet, dass ich vorausgehe, auf die Werwölfin zu. Ein Knurren rollt aus ihrer Kehle, wenn sie den Kopf hin und her wirft. Direkt unter der Glaskuppel steht sie, müsste hell erleuchtet sein, selbst im schwachen Licht des Winters. Doch ihre Wolfsschatten verschlucken die Sonnenstrahlen und machen sie zum Kind der Düsternis. Ob ihre Schatten auf mich abfärben? Langsam gehe ich auf sie zu. «Haddrice?» Ich schlucke und lasse meine Stimme kräftiger klingen. «Ganz ruhig. Du hast Durst. Wir bringen dir zu trinken.»
«Duuuu!» Rasend vor Wut zerrt sie an den Ketten, die ihre grauen, farblosen Arme an das Sünderkreuz fesseln, wirft den Oberkörper vor und zurück. Denn es ist nicht das Wasser, ich bin es, den sie hasst. Sie hat mich erkannt, so wie ich sie.
«Mach mich los!», knurrt sie, heiser und kaum verständlich wegen der Wolfszähne in ihrem sich immer wieder zur Schnauze verformenden Mund. In dieser Zwischenform zwischen Mensch und Tier ist sie furchtbarer als die Tiere in vollständiger Wolfsgestalt, gegen die wir auf dem Teufelsberg gekämpft haben. Denn sie ist beides und nichts.
Diese Bestie befreien? Nie im Leben. «Trink.»
Ich nicke dem Shinan zu, der ihr das Wasserglas an den Mund hält. Für einen Moment wird ihr Gesicht menschlich. Sie nimmt einen Schluck. Doch dann, statt zu schlucken, spuckt sie ihm das Wasser ins Gesicht.
«Haddrice!», versuche ich es erneut.
Ihre Hände ballen sich zu Fäusten. Diesmal bekomme ich als Antwort einen wütenden, heiseren Schrei, der in ein Heulen übergeht, als ihr Gesicht dunkel und spitz wird und sich zum Wolfsschädel verformt.
Rasch verlassen wir den Raum. Der Shinan stellt das leere Glas zurück auf den Tisch. Hinter uns schließen wir die Tür. Der Shinan wischt sich mit zitternden Händen über das Gesicht. Von drinnen hören wir Haddrice
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