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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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alten Legenden. Jedenfalls hat Haddrice das erzählt.
    Und in diesem Moment höre ich Haddrice zum ersten Mal schreien. Ein Schrei ist es, der den Raum füllt vom Boden bis zur Decke und gewiss alle anderen Räume neben und unter mir. Ein Schrei, dass mir die Ohren dröhnen und das Herz zu flimmern anfängt. Ein Schrei, der von nirgendwo kommt und an niemand gerichtet ist. Ein Schrei, weil sie schreien muss. Was, im Namen von alldem, was mir mal wichtig war, lässt sie so entsetzlich schreien?

[zur Inhaltsübersicht]
    15. Elias
    EINE Frauenstimme voller Qual, fast zu tief, um noch menschlich zu sein, erfüllt das neue geheime Haus der Shinanim mit Hass.
    «Wer ist das?», frage ich. Wovon hat der Mann am Eingang vorhin gesprochen? Was halten sie hier oben gefangen? Kann es wahr sein, haben sie einen oder gar mehrere Werwölfe gefangen? «Ist jemand verletzt?» Ich will dem Schrei folgen, um zu helfen. Werwölfe sind gefährlich. Niemand weiß das so gut wie ich.
    «Bleib!», sagt Vittorio und hält mich zurück. «Du sagst, du willst die Wege der Werwölfe erforschen, Elias. Du wirst dich sicher freuen zu hören, dass wir inzwischen ein paar von ihnen hier zu Gast haben.»
    Also stimmt es tatsächlich! Ich sehe im Geiste Thursens Rudel vor mir, die wütenden Bestien, mit denen wir auf dem Teufelsberg so erbittert gekämpft haben. Wen vom Rudel mögen sie erwischt haben? Ich hoffe, die Shinanim wissen, wozu diese Werwölfe in der Lage sind.
    «Sie sind hier oben sicher untergebracht», sagt Esther, als könnte sie meine Gedanken lesen. Sie weist mit dem Arm den Gang entlang, an dem mehrfach verstärkte und sehr alt aussehende Türen liegen. «Wir haben extra für diesen Zweck abgesicherte Räume.»
    Ich folge mit dem Blick ihrer Geste. Vor einer der Türen stehen rechts und links jeweils ein Shinan, ein junger Mann und eine junge Frau. Die Frau lehnt mit dem Rücken an der Wand. Schon von hier sehe ich ihre Hände zittern. Der Mann spricht leise murmelnd auf sie ein. Als wir näher kommen, verstummen sie, straffen ihre Haltung und blicken, Wachsoldaten gleich, die Wand gegenüber an. Hinter der Tür ist es nicht stumm. Etwas wie das Knurren eines Hundes dringt auf den Gang hinaus. Die Frau blickt durch mich hindurch. Sie ist aus der Nähe auffällig blass, und der Mann hat gerötete Augen. Immer noch tun sie so, als würden sie das Knurren aus dem Raum hinter sich nicht wahrnehmen und auch uns nicht.
    «Gesegneten Tag», begrüßt Esther die beiden. Endlich erwachen sie aus ihrer pflichtbewussten Erstarrung. «Gesegneten Tag euch allen», grüßen sie zurück. Sie nicken uns zu und verneigen sich vor Vittorio, gerade lange genug, um Respekt zu zeigen, ohne ihre Aufgabe zu vernachlässigen.
    «Wie geht es der Werwölfin?», fragt Esther.
    «Es ist so traurig», sagt der junge Mann und schluckt. «Es ist so traurig, mit ansehen zu müssen, was aus einem Menschen werden kann, wenn er sich zu nah an die Dunkelheit wagt.»
    «Wie macht sie sich?», will Vittorio wissen.
    «Wir versuchen unser Möglichstes», sagt die junge Frau und weist auf das geschlossene Guckfenster in der Tür. «Aber sie lässt sich von uns nicht helfen. Sie will nicht einmal vom Wasser trinken.»
    «Was denkst du, Elias?»
    Ich weiß genau, was Vittorio von mir hören möchte. «Ich würde sie mir gerne selbst ansehen.»
    Das Haus hier mag neu sein, die Türen sind es nicht. Woher stammen sie? Ich lege meine Hand an das altehrwürdige Holz. Es sind Gefängnistüren, die vermutlich noch aus der Zeit stammen, als Werwölfe keine Legende waren, mit denen die Shinanim ihre Novizen erschrecken. Wo mögen diese Türen all die Jahre verwahrt worden sein? Diesmal dringt ein Heulen durch zu mir. Ein Heulen, das mich zu sehr an die Kämpfe mit diesen Kreaturen erinnert. Wenn dieses Heulen ertönt, gibt es Tote, auf ihrer oder unserer Seite. Unwillkürlich fasse ich mir an den Hals, den Norrock bereits in seinen Fängen hatte. Lass das da drin nicht Luisa sein, bete ich stumm. Ich brauche einen Moment, bis ich mich überwinden kann, den Holzschieber vom Guckfenster zurückzuschieben.
    In dem Raum, übergossen vom Licht aus einem Dachfenster, steht eine Frau, die ausgebreiteten Arme gefesselt an ein T-förmiges Sünderkreuz. Ist das tatsächlich noch eine Frau? Schatten umgeben sie wabernd wie düsterer Nebel. Schwarzes Fell will immer wieder über ihr Gesicht und ihre Hände huschen. Nicht Luisa. Ich atme erleichtert auf und stelle dabei erst fest, dass ich

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