Schattenblüte. Die Erwählten
dich irgendwo, Thursen. Wir sind als Wölfe schneller ohne dich.»
Thursen nickt, greift mit beiden Händen mein Gesicht und drückt mir einen verzweifelten Kuss auf den Mund.
Haddrice rümpft die Nase, schnuppert, schiebt ihn mit einem Ruck zur Seite und packt mich bei den Schultern. «Verdammt, sie sind gleich da!»
«Lauf mit Haddrice. Ich warne das Rudel!», sagt Thursen. «Komm, Shorou, es wird schon irgendwie gehen.» Thursen lässt mich langsam los. Ja, ich kann stehen. Unsicher, mit meiner Hand in seinen Ärmel gekrallt, aber viel besser als gestern.
«Du weißt, was zu tun ist!» Haddrice bohrt ihren Blick in meinen, bis ein kurzes Zucken ihrer Augenbrauen mir das Zeichen gibt.
Ich lasse es zu. Fell umwächst mich, meine vier Pfoten fühlen die Erde, viel sicherer, als auf zwei Beinen zu stehen. Krallen im schneenassen Laub. Dann springen wir los. Sind Wolfsschwestern. Haddrice rennt vorweg. Kennt sie den Weg? Weit greifen meine Sprünge. Mein Wolfsgehör ist scharf. Ich höre auch Thursens Schritte. Rieche ein letztes Mal seinen schnell verwehenden Duft. Haddrice dreht die Ohren. Was hört sie? Da sind andere Schritte, rennende Schritte, durcheinander, viele, zu schnell, keine Schritte von Menschen. Fremd. Shinanim? Sind das die Halbengel? Nur weg hier. Schnell! Zu viele fremde Stimmen. Der Wald riecht nach Gefahr und Hass. Wir müssen weg.
Wir rennen.
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3. Elias
ICH wusste nicht, dass ein besonderer Tag so normal beginnen kann. Ich sitze auf meinem Sessel, das Bein mit der fast schon verheilten Bisswunde ausgestreckt, und betrachte das Bild vom Erzengel Gabriel. Ich habe es als Anerkennung für meinen mutigen Einsatz gegen die Werwölfe erhalten und vielleicht ein wenig auch als Anreiz dafür, dass ich weiterhin bereit bin zu kämpfen. Zu kämpfen wie er. Doch ich bin weiß Gott nicht wie Gabriel. Er ist ein Engel, ganz und gar ein Engel und damit viel stärker und mächtiger, als ich es je sein werde. Bestimmt wurde er nie verwundet, hatte nie Narben. Ist es vermessen, wenn er trotzdem mein Vorbild ist, der Engel mit dem Flammenschwert?
Jemand klopft an meine Zimmertür.
Als ich «Ja?» rufe, öffnet sie sich, und Adrian lehnt im Rahmen mit einem Becher Kaffee für mich.
«Ich dachte, du brauchst etwas Aufmunterung, bevor du dich vor unseren Obersten traust.»
Er sagt das, als müsste er mir Mut machen! «Adrian, sie haben mich ausdrücklich darum gebeten, dass ich komme. Sie brauchen mich, denn es gibt vermutlich Fragen, die nur einer von unserer Gruppe ihnen beantworten kann. Ich bin für unsere Gruppe verantwortlich, also werden sie mich schon angemessen behandeln.»
«Schick genug siehst du jedenfalls aus», spöttelt er mit Blick auf meinen Anzug. Er grinst und stellt den Becher auf meinen Schreibtisch. «Raquel und Felix wollen wissen, wann du losfährst.»
Etwas steif noch stehe ich vom Sessel auf. Wann endlich hört dieser Wolfsbiss auf zu schmerzen? «Jetzt.»
Adrian hebt die Tasse noch mal hoch. «Dann brauchst du die Papiere hier nicht mehr?»
Er zeigt auf den Stapel Ausdrucke, gesichert mit meinem Briefbeschwerer aus grünem Glas. Das oberste Papier ist jetzt leicht gewellt und hat einen braunen runden Kaffeeabdruck vom Boden des Bechers. Das darf doch nicht wahr sein! «Doch, die brauche ich allerdings noch. Das sind die Unterlagen für meinen Vortrag.»
«Tut mir leid. Kannst du sie noch mal ausdrucken?»
«Ja natürlich.» Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass meine Zeitreserve gerade ziemlich zusammenschrumpft.
«Aber?»
«Mein Drucker ist ausgeschaltet und mein Laptop heruntergefahren und eingepackt.»
«Du hast die Daten doch bestimmt sicherheitshalber noch irgendwo gespeichert, nicht nur auf deinem Laptop, oder? Ich kenne dich, Elias.»
«Auf einem USB -Stick. Ja.»
Adrian streckt die Hand aus. «Gib her. Ich drucke die Blätter für dich aus. Du kannst inzwischen deinen Kaffee trinken. Wenn ich fertig bin, bringe ich sie dir zum Auto.»
Ich gebe ihm den Stick und die Mappe für die fertigen Ausdrucke. «Danke. Auch für den Kaffee.» Ich drehe mich nicht um. Das Klappen der Tür sagt mir, dass er weg ist. Ich schaue aus dem Fenster. Da draußen ist nichts als ein kalter grauer Wochentag, mit kahlen Zweigen und schmutzigem Schnee in kleinen übrig gebliebenen Haufen, die zertreten werden und schmelzen. Der Himmel ist farblos grau, denn die Sonne scheitert an den Wolken. Kaum etwas von ihrem Licht erreicht uns. Dabei sollte die Sonne leuchten
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