Schattenblüte. Die Erwählten
vom strahlend blauen Himmel, die Vögel sollten singen und die Bäume sich in ihr erstes Grün hüllen. Die Menschen auf den Straßen sollten lachen und singen. Denn wenn es auch kein Jubeltag ist, kein Feiertag, so ist doch dieser Tag etwas ganz Besonderes für mich. Der Erzshinan kommt in unsere Stadt. Der Oberste der Oberen. Die wenigsten von uns haben jemals Gelegenheit, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Ich jedoch werde in wenigen Stunden Vittorio nicht nur sehen, sondern auch mit ihm sprechen.
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4. Luisa
ICH folge Haddrice, ihren Angstgeruch in der Nase. Schnell! Die Anderen, Fremden, nähern sich. Sie riechen seltsam, nicht nach Wald und Erde, sondern nach Eifer und Licht und beißend frischen Regenwolken. Wir rennen, doch wir sind zu langsam! Der fremde Geruch wird stärker.
Haddrice wirft sich nach links. Jagt quer durchs Gehölz, zerknackt Ästchen unter ihren Pfoten. Zweige stechen in mein Fell, als ich folge. Atmen schmerzt. Wo sind die Fremden? Ich wende den Kopf. Wo sind sie, die Zweibeiner, die nicht Menschen sind? Jetzt sehe ich sie. Es sind viele. Sie jagen im Rudel wie wir. Der erste hebt die Hände, ruft etwas. Ich höre ihn und verstehe nicht. Wir sind am Wasser. Eis deckt den Fluss. Mürbes, feines Eis. Haddrice stoppt und dreht sich um. Immer noch riecht sie nach Angst. Ich bleibe ebenfalls stehen, die Pfoten im schneeigen Laub. Ducke mich, mein Fell gesträubt. Wenn sie uns wollen, müssen sie kämpfen.
Die Fremden bilden einen Halbkreis vor uns, als wären sie eine Rotte Wildschweine. Vor uns sind sie, hinter uns der Fluss. Eine Falle? Und wenn schon. Haddrice wirft sich herum, wir rennen, hinaus auf das Eis. Die dünne Eisschicht, wie die Haut des Flusses, bricht knisternd unter unseren Pfoten. Schnell noch ein paar Sprünge. Und dann schwimmen wir aufs Wasser hinaus.
Die Fremden sind unmenschlich schnell. Sie haben grelle Augen, doch sie haben kein Winterfell wie wir. Sie können nicht folgen. Ihr Geruch bleibt am Ufer zurück.
Wir sind Wölfe. Fellgewärmt und trotzdem eisig durchpflügen unsere Beine das Wasser. Geradeaus, nur geradeaus, den Fluss aufwärts gegen die Strömung. Wir sehen uns um, und ein paar der Anderen stehen noch da. Manche laufen mit uns parallel am Ufer. Werden weniger, je weiter wir kommen. Gleich geben sie auf.
Das Wasser spült mir kalt ums Maul. Rhythmisch grabe ich die Krallen in die Wellen. Meine Beine rudern flussaufwärts, ich bin hinter Schilf verborgen. Durch die welken Halme sehe ich sie auseinanderlaufen. Ihr Geruch wird schwächer, ihre Rufe verwehen. Endlich. Ich japse nach Luft, schmecke die Havel auf der Zunge. Wasser plätschert, dünnes Eis knirscht. Anstrengend, doch das Wasser schützt uns. Vor mir schwimmt Haddrice. Meine Schmerzen, die eben noch nur knurrten, beißen mich. Bei jeder Bewegung. Schmerz. Schmerz. Der ganze Fluss ist voll Schmerz. Das Wasser ist Schmerz. Ich muss weiter schwimmen, Haddrice hinterher. Atmen ist schwer. Wo ist meine Kraft? Ich winsele, winsele nach Haddrice. Sie wendet die Ohren. Ein kurzer Kläffer, sie hat verstanden.
Wir wenden uns auf das offene Wasser hinaus. Wir sind mutig. Jetzt sind wir wieder sichtbar, doch wie sollen sie folgen, die Fremden? Sie können nicht über das Wasser gehen. Jetzt brüllen sie wieder lauter. Aufgeregt. Wir Wölfe verstehen die Worte nicht. Ich kann gleich nicht mehr. Nur langsam kommt das Ufer näher.
Haddrice schwimmt voraus, läuft über die Eisscherben ans Ufer. Auch ich schaffe es raus aus dem Wasser über das knirschende Eis. Wir durchbrechen den Schilfgürtel. Schütteln das Wasser aus dem Fell und laufen weiter. Der Wald wird uns schützen. Gleich sind wir im Unterholz. Gleich sind wir verschwunden. Nur noch ein paar letzte lange Sätze. Gleich sind wir sicher.
Gleich.
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5. Elias
AUF das Treffen mit Vittorio, unserem verehrten Weltoberhaupt, und den anderen führenden Köpfen unseres Ordens habe ich mich lange und konzentriert vorbereitet. Heute muss und wird alles perfekt sein. In Gedanken gehe ich meine Rede noch einmal durch. Ich kenne sie auswendig, die dazu gehörenden Schaubilder sind im Computer abgespeichert und zusätzlich für alle Fälle auf USB -Stick gesichert. Mein Auto ist aufgetankt. Raquel und Felix sind vermutlich draußen, um die Scheiben meines schwarzen BMW Roadster zu enteisen, damit ich gleich losfahren kann. Der Kaffee, den Adrian mir gebracht hat, ist heiß und gut. Ich trinke ein paar
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