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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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Luisa.
    Vom Wasser her höre ich etwas. Ich bleibe stehen und versuche, obwohl ich vom Rennen außer Atem bin, ruhig und lautlos Luft zu holen. Eisig brennend strömt sie in meine Lungen. Ich schließe die Augen und lausche. Nicht zum ersten Mal wünsche ich mir mein Wolfsgehör zurück. Was ist das für ein Geräusch? Plätschern? Wildschweine am Wasser oder doch die Shinanim? Sind das Rufe? Keine Chance, ich kann es nicht hören, ich muss es sehen. So schnell ich kann, renne ich, zwischen den Baumstämmen hindurch, abwärts zum Havelufer. Direkt am Wasser bleibe ich keuchend stehen. Ja, jemand ruft etwas, und ein anderer scheint zu antworten. Ich klettere auf eine Weide, deren Stamm sich über das Ufereis der Havel neigt. Im Sommer springen die badenden Kinder von hier ins Wasser. Die Rinde ist abgewetzt von endlos vielen nackten Füßen. Ein paar schnelle Griffe, dann bin ich so hoch, dass ich über das Schilf und das Buschwerk hinwegsehen kann.
    Ein Stück flussaufwärts werden die Rufe lauter, und da sind sie, Haddrice und Luisa, beide Wölfe, im Wasser! Sie schwimmen zügig durch die eisige Havel, und die Shinanim gucken ihnen vom Ufer aus hinterher. Sie haben sie abgehängt! Haddrice schwimmt voraus, sie wendet, durchquert den Fluss, und die beiden erreichen das gegenüberliegende Ufer. Ja! Ja! – Fast hätte ich es laut gesagt. Sie steigen rasch aus dem Wasser, schütteln die Tropfen aus ihrem Fell und laufen weiter, dem Wald entgegen. Sie haben es geschafft!
    Doch die Freude bleibt mir im Hals stecken. Am anderen Ufer sind auch schon lauter Shinanim.
    Verdammt!

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    7. Elias
    ICH fahre aus der Einfahrt, setze den Blinker und fädele mich in den zäh fließenden Verkehr ein. Meter um Meter kriecht die Autoschlange über den Asphalt des Kurfürstendamms. Bremslichter vor mir leuchten rot. Motoren brummen im Leerlauf, atmen ungeduldig Abgaswolken aus, dann geht es wieder ein paar Meter weiter. Ein Kurierfahrer rast, auf sein Mountainbike geduckt, an mir vorbei. Ich sehe der breiten gelben Tasche, die er auf dem Rücken trägt, nach, versuche ruhig zu bleiben, aber diese quälende Langsamkeit zerrt an meinen Nerven. Warten an der Ampel. Fahren. Wieder eine Ampel, die auf Rot springt, bevor ich die Kreuzung erreicht habe. Und wieder warten. Die Geschäfte haben schon geöffnet, Fußgänger mit Einkaufstüten überqueren die Fahrbahn, endlos wie ein Ameisenschwarm. Selbst die rote Fußgängerampel stoppt sie nicht. Dann ist die Straße endlich wieder frei, und es geht weiter. Ich könnte mich entspannt in meinem Sitz zurücklehnen, aus dem Fenster sehen, Musik hören. Ich bin nicht in Zeitnot. Es gelingt mir trotzdem nicht. Mit leisem Neid betrachte ich den Doppeldecker, der mich rechts auf der Busspur überholt. Busse, Taxis und Fahrräder sind die Einzigen, die am Ku’damm ihre Reifen rollen lassen können.
    Ich begegne meinem Blick im Rückspiegel und rufe mich selbst zur Ordnung. Heute geht einer meiner Lebensträume in Erfüllung. Ich bin auf dem Weg zum Flughafen, auf dem Vittorio – Vittorio! – in Kürze landen wird, und ich wurde eingeladen, bei seinem Empfang dabei zu sein.
    Ich muss schon wieder stoppen, denn der Golf vor mir hat einen freien Parkplatz gefunden und blockiert beim Einparken die Straße. Hier braucht man wirklich eine Engelsgeduld. Der hinter mir hat sie nicht und hupt. Ich lächle. Ich glaube, nichts ist mir so schwergefallen zu lernen wie Geduld. Noch während des Abiturs hatte ich nicht die Spur davon. Eine Gruppenaufgabe befasste sich mit Kinderarbeit in Entwicklungsländern. Wir waren zu dritt, aber anscheinend war ich der Einzige, der sich die Höchstpunktzahl zum Ziel gesetzt hatte. Unser Vortrag entwickelte sich im Tempo der Kontinentalverschiebung. Bei keinem Treffen gab es nennenswerte Fortschritte. Meine Mitschüler arbeiteten zwar vor sich hin, gingen am Abend aber lieber auf Partys als am Computer zu sitzen. Anfangs begleitete ich sie sogar, in der Hoffnung, mich abzulenken. Aber bald habe ich es nicht mehr ertragen. Ich arbeitete fast die ganze Nacht durch allein an der Aufgabe. Endlich ging es voran. Nach zwei weiteren Nächten war ich fertig mit der Recherche, hatte alle Materialien vorbereitet und sämtliche Schaubilder allein angefertigt. Nur ihre Texte, nach meinen Vorgaben natürlich, haben die anderen beiden aus meiner Gruppe noch selbst geschrieben, gerade rechtzeitig. Die Prüfung lief natürlich gut. Die anderen wollten mich anschließend

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