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Schattenblume

Schattenblume

Titel: Schattenblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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konnte ihre Gefühle für ihn nicht ändern.
    «So.» Er stand auf, ihre Sandalen in der Hand.
    «Geht's?»
    Sie ging einen Schritt und log: «Ein bisschen zu groß.»
    «Jaja.» Jeffrey lief auf Socken weiter, «Hat Reggie er‐
    wähnt, dass ich mal mit seiner Schwester zusammen
    war?»
    «Ich gehe mal davon aus, dass du mit jeder Frau in der Stadt was hattest.»
    Er sah sie seltsam an.
    «Tut mir Leid», sagte sie dann, und es stimmte auch. Ein paar Minuten liefen sie schweigend weiter, dann fragte sie:
    «Warum haben hier alle etwas gegen dich?»
    «Mein Dad war nicht im Rotary Club.»

    215
    «Da muss doch mehr dran sein.» Sara fragte sich, was er verbergen wollte. Doch auch sie hatte ihre Geheimnisse,
    und so war sie in keiner guten Position, ihm seine Zurück-haltung vorzuwerfen.
    Er blieb stehen und sah sie an. «Ich möchte noch eine
    Nacht hier bleiben.»
    «In Ordnung.»
    «Und ich will, dass du bei mir bleibst.»
    «Ich habe nicht vor –»
    «Du bist der einzige Mensch hier, der mich nicht für
    einen Verbrecher hält.»
    «Und Hoss.»
    «Er wird seine Meinung ändern, wenn ich meine Aus‐
    sage mache.»
    «Was wirst du aussagen?»
    «Das Gleiche wie du: die Wahrheit.» Er lief weiter, und
    sie folgte ihm. «Vielleicht wäre alles anders, wenn Robert den Mund aufmachen würde.» Er blieb stehen und zeigte
    auf irgendetwas hinter Sara. Als sie sich umdrehte, sah sie die Berge, die sich am Horizont abzeichneten.
    «Das ist Herd's Gap», sagte er. «Wo die Reichen leben.
    Jessies Familie zum Beispiel.»
    Sara beschirmte ihre Augen und betrachtete das Pano‐
    rama.
    «Ich weiß, es sieht unscheinbar aus, aber wir sind direkt am Fuß der Appalachen. Von hier aus kann man es nicht
    sehen, aber dort drüben», er zeigte nach links, «sind die Cheaha Mountains.» Er ging weiter. «Und unter uns liegen fünfzig Kilometer des härtesten, weißesten Marmors
    der Welt. Fast hundertzwanzig Meter in die Tiefe.»
    Sara sah seinen Rücken an und fragte sich, was er ihr
    damit sagen wollte. «Aha.»

    216
    «Das Washington Monument wurde mit Sylacauga‐
    Marmor errichtet und das Oberste Bundesgericht auch»,
    fuhr er fort. «Ich weiß noch, wie früher bei den Sprengungen die Fensterscheiben zitterten.» Er stieg über einen
    umgefallenen Baum und reichte Sara die Hand, um ihr zu
    helfen. An seinen Socken klebte Erde, aber es schien ihm nichts auszumachen.
    Er sagte: «Unter der Stadt fließt ein Fluss. Durch den
    unterirdischen Fluss und die Sprengungen im Steinbruch
    hat sich im ganzen Stadtgebiet der Boden stellenweise ab‐
    gesenkt. Vor ein paar Jahren hat sich unter der Baptistenkirche ein Loch geöffnet, und die halbe Kirche ist zehn
    Meter in die Tiefe gestürzt.»
    «Jeffrey –»
    Wieder war er stehen geblieben. «Genau so fühlt es
    sich an, Sara. Ich habe das Gefühl, die ganze Stadt ver-sinkt, und ich stürze mit ihr in die Tiefe.» Er lachte bitter. «Es heißt, wenn man mal auf dem Boden ist, kann
    man nicht tiefer sinken. Aber in Sylacauga ist sogar das
    möglich.»
    Sara holte tief Luft, dann atmete sie aus. «Ich kann
    keine Kinder bekommen.»
    Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis er reagierte, dann
    sagte er unbestimmt: «Verstehe.»
    «Wir tun wohl am besten so, als hättest du nicht gesagt,
    was du gestern Nacht gesagt hast, bevor ...», sie warf eine
    Hand in die Luft, «... bevor die Katastrophe hereingebro‐
    chen ist.»
    «Nein», unterbrach er sie. «Ich habe es ernst gemeint»,
    sagte er, und sie glaubte ihm.
    «Dann erklär mir», bat sie, «warum Reggie dir nicht
    vertraut.»

    217
    Regentropfen begannen auf das Laubdach zu prasseln,
    und als Sara hinaufsah, brach unvermittelt das Unwetter
    los. In wenigen Sekunden waren sie beide bis auf die Knochen durchnässt. Es schüttete so stark, dass Sara nach Jef‐
    freys Hand griff, um ihn nicht zu verlieren.
    «Hier lang», rief er durch das Prasseln. Er lief zügig voran, dann begann er zu rennen, als ein Blitz den Himmel
    zerriss. Die hohen Bäume um sie herum, die eben noch so majestätisch gewirkt hatten, waren nur noch riesige Blitz-magneten, und Sara schloss sich seinem Tempo an. Sie
    hoffte, sie fanden einen Unterstand, bevor der Sturm noch
    schlimmer wurde.
    Der Himmel verdunkelte sich, und gerade als Sara hin‐
    aufsah, zog Jeffrey sie hinunter in die Hocke. Vorsichtig schob er ein Dickicht aus Schlingpflanzen und ein paar alte
    modrige Bretter zur Seite, dann führte er sie in den etwa einen Meter breiten Eingang einer Höhle.

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