Schattenblume
doch Wagner bedeutete ihr zu warten und wandte
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sich an Frank und Nick: «Gentlemen, dürfte ich um einen
Moment Ihrer Zeit bitten?»
Die Männer folgten ihr in Bill Burgess' Büro. Wagner
lächelte Lena an, bevor sie die Tür schloss. Ihr Lächeln war
undurchschaubar, und Lena wusste nicht, ob es eine War‐
nung war oder bloße Höflichkeit. So oder so, Lena würde
mit Händen und Füßen darum kämpfen, dass sie ins Ge‐
bäude geschickt wurde. Sie musste ihren Beitrag leisten.
Jeffrey hatte gegen den Willen der ganzen Stadt dafür gesorgt, dass Lena zur Truppe zurückkehren durfte. Das
schlimmste Verbrechen war, dass er jetzt tot dort drin lag und Lena am Leben war.
Molly Stoddard hatte die ganze Zeit an den Klapptisch
gelehnt dagestanden, doch jetzt löste sie sich von dem
Tisch und klopfte an die Tür des Büros. Ohne eine Ant‐
wort abzuwarten, ging sie hinein und schloss die Tür hinter sich.
Lena erwartete eine Reaktion von Wagners Mitarbei‐
tern, doch sie blieben gleichgültig. Einer von ihnen sprach so leise in ein Handy, dass Lena sich fragte, ob er nur die Lippen bewegte. Die anderen beugten sich über den
Grundriss des Reviers und zeigten auf bestimmte Berei‐
che, als feilten sie an einer Strategie. Der Plan, eine Kamera
durch das Belüftungssystem hineinzuschleusen, war ge‐
scheitert, weil die Schützen den Schacht mit Kleidungsstü‐
cken verstopft hatten.
Lena ging hinüber, um zu sehen, was die beiden planten.
Der Mann mit dem Handy beendete sein Gespräch. Er er‐
klärte: «Jennings ist letztes Jahr bei einer Massenkarambo‐
lage in Friendswood, Texas, ums Leben gekommen.»
«Das ist nicht Ihr Ernst», stöhnte Lena. Die Nachricht
traf sie wie eine Ohrfeige.
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Der Mann entgegnete: «Er hatte zwei Kinder auf der
Rückbank. Eins davon ist wohlbehalten aus dem Wrack
geklettert. Das ist Glück, was?»
«Ja», sagte Lena, doch sie bezweifelte, dass der Junge
sich wie ein Glückspilz fühlte. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, was Jennings seinen Opfern antat. Dass diese
Bestie auf so banale Weise gestorben war, kam ihr irgend‐
wie falsch vor.
Jetzt ging die Tür des Büros auf, und Amanda Wagner
kam mit Frank heraus. Nick und Molly waren noch drin,
und Lena sah, dass Molly am Schreibtisch des alten Bur‐
gess saß und sein Telefon benutzte. Sie hatte den Kopf
nach vorn gebeugt, eine Hand im Nacken. Offensichtlich
führte sie ein privates Gespräch.
Wagners Kollege wiederholte die Information über Jen‐
nings. Sie bemerkte nur: «Na ja, es war sowieso eine etwas
wilde Theorie.» Dann winkte sie Lena ins Büro. «Kommen
Sie bitte mit.»
Nick wartete, bis sich alle versammelt hatten, dann
schloss er die Tür. Molly sah Lena beunruhigt an. Ins Telefon sagte sie: «Liebling, Mama muss jetzt Schluss ma‐
chen.» Sie wartete einen Moment, dann sagte sie: «Ich hab
dich auch lieb. »
Lena kannte Saras Mitarbeiterin aus der Klinik, doch sie
hatte sie nie weiter beachtet und auch nie darüber nachge‐
dacht, ob die Frau vielleicht Familie hatte. Dabei war sie sicher eine gute Mutter – immer die Ruhe in Person, immer für die Kinder da. Egoismus schien ihr völlig fremd zu sein. Manche Menschen waren für das Familienleben einfach wie geschaffen.
«Detective Adams», fing Wagner an. «Wir haben Sie
ausgewählt, in das Gebäude zu gehen.»
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Nick warf ein: «Ich möchte nochmal sagen, dass ich da‐
gegen bin.»
Lena ging in die Defensive. «Ich weiß, was ich –»
«Ich meine nicht Sie», unterbrach Nick. Er zeigte auf
Molly. «Sondern sie.»
«Moment mal», sagte Lena, als sie endlich begriff, was
Molly getan hatte. «Sie geht mit rein?»
Wagner erklärte: «Wir schicken Sie beide als Sanitäter
rein. Das ist Ihre Tarnung.»
«Sie haben doch gesagt, dass Barry wahrscheinlich tot
ist.»
Molly sah Nick an, als sie sprach. «Ein paar der Kinder könnten verletzt sein. Sara braucht mich vielleicht.»
Nick presste die Lippen zusammen, und Lena wunderte
sich, wieso er so heftig reagierte. Seine Einwände schienen
privater, nicht beruflicher Natur zu sein.
«Nur für die Akten», sagte Wagner. «Ich war unschlüs‐
sig, was Sie angeht, Detective Adams, aber Nicky hat mir versichert, dass Sie der Aufgabe gewachsen sind.»
Lena verbiss sich eine trotzige Bemerkung. Sie schluck‐
te ihren Stolz hinunter und sagte: «Wenn Sie sich nicht
sicher sind ...» Sie versuchte Worte zu finden, doch sie musste gegen ihre
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