Schattenblume
aufgefallen ist, müssen Sie es
sagen. Ich kann nur diese Formulare hier ausfüllen, nicht mehr. Ich bin kein Polizist, und ich bin auch nicht Ihre Mutter.»
«Lady», begann Reggie, seine Stimme zitterte vor Wut.
«Sie wissen gar nicht, in was Sie sich da hineinziehen
lassen.»
«Das klingt mir sehr nach einer Drohung.»
«Es ist eine Warnung», sagte er. «Sie scheinen ein netter Mensch zu sein, aber meiner Meinung nach lassen Sie sich mit den falschen Leuten ein.»
«Das haben Sie mehr als deutlich gemacht.»
«Vielleicht sollten Sie sich mal überlegen, warum die
Leute Sie ständig vor ihm warnen.» Er tippte sich an den Hut, als Sara zur Tür ging. «Ma'am.»
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KAPITEL ZWÖLF
ie Hitze draußen fühlte sich an wie eine Wand, als Sara
Daus dem Bestattungsinstitut kam. Am Himmel sah sie
die Vorboten eines Gewitters, doch die aufkommenden Wol‐
ken kühlten die Luft nicht ab. Als Sara bei Jeffrey am Wagen
ankam, rann ihr der Schweiß in Bächen den Rücken
hinunter.
Trotzdem schlug sie vor: «Lass uns ein paar Schritte gehen.»
Er stellte keine Fragen, als sie den Friedhof hinter dem Gebäude überquerten. Es ging kein Lufthauch, und Sara
wurde von der Hitze schwindelig, als sie die Anhöhe hin‐
aufstiegen. Sara lief immer weiter, las geistesabwesend die
Inschriften der Grabsteine, während sie sich dem Wäld‐
chen hinter dem Friedhof näherten. Im Zaun war eine
Pforte, die Jeffrey ihr aufhielt.
Es wurde dunkler, als sie in den Wald kamen, und Sara
wusste nicht, ob es an dem dichten Blätterdach über ihren
Köpfen lag oder an dem sich zusammenbrauenden Gewit‐
ter. So oder so, im Schatten war es plötzlich merklich küh‐
ler, und dafür war sie dankbar.
Sie folgten einem schmalen Pfad. Jeffrey ging voraus,
drückte Äste zur Seite und machte den Weg frei. Über ihnen sangen Vögel, und sie hörte das Zirpen einer Grille –
oder das Zischen einer Schlange, je nachdem, wie viel Spiel
man seiner Phantasie ließ.
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Schließlich brach sie das Schweigen. «Ich weiß, dass wir
hier in Alabama sind, aber ich verstehe trotzdem nicht,
wieso sich keiner gefragt hat, weshalb Luke Swan kein
T‐Shirt anhatte.»
Jeffrey riss einen Zweig von einem niedrigen Ast. «Nie‐
mand scheint sich hier groß Fragen zu stellen.» Er sah sich über die Schulter nach ihr um. «Vor dem Fenster waren
keine Fußspuren.» Er überlegte kurz, dann sagte er: «Der
Boden war natürlich trocken. Man könnte behaupten, dass
niemand in dem trockenen Boden Spuren hinterlassen
hätte.»
«Ich finde, es wird ganz schön viel behauptet», sagte sie und zuckte zusammen, als sich eine Wurzel in ihre Ferse
grub.
Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. «Ich konnte
nicht erkennen, ob das Fliegengitter von außen oder von
innen eingedrückt wurde.»
«Und was willst du jetzt tun?»
«Gott», sagte er und warf den Zweig in den Wald. «Ich
weiß es nicht.» Dann kniete er sich hin und begann seine Schnürsenkel zu lösen.
«Was machst du denn da?»
«Mit deinen Sandalen kannst du genauso gut barfuß ge‐
hen.» Er zog seine Turnschuhe aus und reichte ihr einen.
Sie zögerte, doch er bestand darauf. «Sara, ich habe je‐
den Zentimeter deines Körpers geküsst. Bild dir nicht ein, ich hätte nicht gemerkt, dass deine Füße so groß wie meine
sind. »
«Nicht ganz», murmelte sie und stützte sich auf seine
Schulter, während sie in den rechten Schuh schlüpfte. Zu
ihrer Schande passte er fast perfekt.
Sie blickte ihn an, um zu sehen, ob er es merkte, doch er
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lächelte nur zu ihr hinauf und sagte: «Ich liebe es, wenn du
rot wirst.»
«Ich bin nicht rot geworden», widersprach sie, doch sie
spürte, dass ihre Wangen glühten.
Er half ihr in den zweiten Schuh. Sie wollte sich hin‐
knien, um die Schnürsenkel zuzubinden, doch Jeffrey kam
ihr zuvor. «Ich warte die ganze Zeit darauf, dass irgendjemand den Mund aufmacht. Sie können ihm die Geschichte
doch nicht einfach so abkaufen.»
«Ich glaube, Reggie stellt sich vielleicht doch ein paar
Fragen», sagte sie und sah zu, wie er über der Schleife einen weiteren Knoten machte. Seine Hände waren so
groß, und doch waren seine Berührungen immer ganz
zart. Irgendwie hatte sich die Wut aufgelöst, die heute
Morgen noch in ihr gegärt hatte, und sie wusste nur noch,
dass sie vierundzwanzig Stunden vorher drauf und dran
gewesen war, sich rettungslos in ihn zu verlieben. Sosehr ihre Vernunft auch dazu riet, sie
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