Schattenblume
fort. Es war einfacher zu glauben, dass Lane die Mutter des Babys war und Julia abgehauen ist. Dan Phillips, einer der Jungs aus der Footballmannschaft, ist zur gleichen Zeit abgehauen. Es gab wieder eine Menge Gerüchte, aber die legten sich bald. Es war für alle einfacher so, schätze ich.»
Nell richtete sich auf und holte ein Fotoalbum unter dem Couchtisch hervor. Sie blätterte die Seiten durch, bis sie fand, was sie suchte. «Hier, das ist sie, dahinten.»
Sara sah ein Foto von Possum, Robert und Jeffrey auf der Tribüne eines Stadions. Sie trugen ihre Letterman-Jacken, auf denen jeweils über der Spielernummer der Nachname eingestickt war. Jeffrey hatte den Arm um Nell gelegt, und sie schmiegte sich an ihn wie ein verliebter Backfisch. Unsinnigerweise spürte Sara einen Anflug von Eifersucht.
«Der Fiesling wollte mir nie seine Jacke geben», beschwerte sich Nell, und Sara lachte, insgeheim erleichtert. Es war eine Ehre, in der Highschool die Letterman-Jackeeines Jungen tragen zu dürfen oder seinen Mannschaftsring. Dabei ging es meistens weniger um einen Beweis seiner Liebe als darum, die anderen Mädchen eifersüchtig zu machen.
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, fragte Nell: «Wes sen Ring hast du getragen?»
Sara wurde rot. Steve Manns Ring war ein fetter Goldklumpen gewesen mit einem unglaublich hässlichen Schachkönig darauf – sehr viel uncooler als die Ringe, die die Sportler trugen. Sara hatte den Ring gehasst und ihn abgenommen, kaum dass sie nach Atlanta zog. Drei Monate brauchte sie, bis sie den Mut zusammengekratzt hatte, Steve den Ring mit einem Abschiedsbrief zurückzuschicken. Wenigstens hatte sich Sara Jahre später dafür bei ihm entschuldigt. Wenn sie ehrlich war, hätte sie wohl nie wieder einen Gedanken an ihn verschwendet, wenn die Ereignisse in Atlanta sie nicht zur Rückkehr nach Grant County gezwungen hätten.
Nell fasste ihr Schweigen falsch auf, wahrscheinlich glaubte sie, jemand wie Sara hätte in der Highschool keinen Freund gehabt. Sie sagte: «Na ja, es ist ein blöder Brauch. Jeffrey hatte keinen Mannschaftsring – konnte sich keinen leisten –, aber die anderen Mädchen trugen ihre Ringe am Finger, als wären sie verheiratet.» Sie lachte. «Dabei mussten sie den Ring mit Heftpflaster bekleben, damit er überhaupt hielt.»
Sara lächelte. Das Gleiche hatte sie auch getan.
Nell beugte sich wieder über das Fotoalbum. «Hier», sagte sie und legte den Finger auf das verschwommene Bild eines jungen Mädchens, das auf einem Foto, das Possum und Robert zeigte, im Hintergrund stand. «Das ist Julia.»
Nach Nells Beschreibungen hätte Sara eine kleine Hexe erwartet, doch Julia sah genauso aus wie jeder andere Teenager damals. Das Haar hing ihr glatt bis zu den Hüften, und sie trug ein schlichtes Kleid mit Blumenmuster. Wenn, dann sah sie traurig aus, und statt der Eifersucht von eben empfand Sara nun unerwartet Sympathie für das Mädchen.
Nell sah näher hin. «Wenn ich sie mir jetzt so ansehe, war sie gar nicht so schlimm. Aber auf einem Foto kann man den Charakter eben nicht erkennen, nicht?»
«Nein», stimmte Sara zu. Das Mädchen war recht hübsch. Und doch hatte das nicht ausgereicht, um Julia vor ihrem familiären Umfeld zu retten. Sie fragte: «Wurde sie von ihrem Vater missbraucht?»
«Er hat sie windelweich geprügelt.»
«Nein», sagte Sara. «So meine ich es nicht.»
«Ach das …» Nell schien nachzudenken. «Ich habe keine Ahnung, aber zuzutrauen wäre es ihm.»
«Kannst du dir vorstellen, wer der Vater des Kindes gewesen sein könnte?»
«Keine Ahnung», sagte Nell. «Wenn du eine Liste von allen aufstellen würdest, die mit ihr zusammen waren, da stünde die halbe Stadt drauf.» Sie sah Sara verächtlich an. «Auch Reggie Ray.»
«Er war doch viel jünger.»
«Na und?»
Sara gab ihr Recht. Dann sagte sie: «Lane hat behauptet, dass Eric oft ins Krankenhaus muss. Es klingt nach einer Blutgerinnungsstörung.» Sie ging die Möglichkeiten durch. «Und die werden autosomal-rezessiv oder dominant vererbt.» Als sie Nells verwirrten Gesichtsausdruck sah, erklärte sie: «Entschuldige bitte. Das heißt, dass solche Störungengenetisch sind. Eins der zwei Proteine, die für die Blutgerinnung zuständig sind, ist defekt.»
«Muss ich das verstehen?»
«Bluterkrankheiten werden von den Eltern an die Kinder weitergegeben.»
«Aha.»
«Hast du eine Ahnung, ob Julia Probleme mit der Blutgerinnung hatte?»
«Nein», sagte Nell. «Aber einmal
Weitere Kostenlose Bücher