Schattenblume
Kopf. Er hielt einen Finger hoch, als wollte er etwas sagen, doch er sagte nichts. Schließlich schüttelte ernoch einmal den Kopf und ging davon. Er wollte anscheinend zum Haus seiner Mutter.
«Scheiße», flüsterte Sara und stemmte die Hände in die Hüften. Warum war es nur immer so schwierig zwischen ihnen? Jedes Mal, wenn es mal eine Minute gut ging, kam ihnen etwas – meistens
jemand
– in die Quere und machte alles kaputt. Vergewaltigt. Alles, was von ihm behauptet wurde, konnte sie verkraften, nur das nicht. Warum hatte er ihr nichts davon erzählt? Warum hatte er ihr nicht vertraut? Wahrscheinlich aus demselben Grund, weshalb sie ihm nicht hundertprozentig vertraute.
Nell saß auf der vorderen Treppe. Als Sara kam, stand sie auf und streckte ihr die Hand entgegen. «Ich hab Lane Kendalls Wagen vor Roberts Haus gesehen. Was hat die alte Ziege gewollt?»
Sara wollte den Mund aufmachen, doch zu ihrer eigenen Überraschung brach sie in Tränen aus.
«Ach, Schätzchen», sagte Nell und führte sie ins Haus. «Komm.» Sie zog Sara auf die Couch. «Setz dich her.»
Sara setzte sich und ließ sich von Nell in die Arme nehmen. Er war ihr peinlich, doch gleichzeitig war sie dankbar, und zwischen den Schluchzern brachte sie in unzusammenhängenden Fetzen all das heraus, was sie Jeffrey hatte sagen wollen.
«Die armen Kinder.»
«Ich weiß.»
«Sie waren so verdreckt, so hungrig.»
Seufzend schüttelte Nell den Kopf.
«So was darf es doch gar nicht geben.»
Nell strich ihr tröstend über das Haar. «Schsch …»
«Was ist passiert?», flehte sie. «Bitte, sag mir einfach, was damals passiert ist.»
«Komm», Nell reichte ihr ein Tuch aus einer Kleenexschachtel. «Putz dir erst mal die Nase.»
Sara schnäuzte sich die Nase und kam sich albern vor. Sie setzte sich auf, nahm sich noch ein Tuch und wischte sich über die Augen. «O Gott, es tut mir so Leid.»
«Ein Wunder, dass das nicht schon viel früher passiert ist», sagte Nell und nahm sich auch ein Tuch.
«Die Kinder …», murmelte Sara. «Diese armen Kinder.»
«Ich weiß. Mir tut es jedes Mal in der Seele weh, wenn ich sie sehe.»
«Warum kann man denn gar nichts
tun
?»
«Frag mich nicht», sagte sie. «Ich würd noch eine Anzeige in die Zeitung setzen, wenn ich das Gefühl hätte, dass sie jemand nimmt.»
Sara versuchte zu lachen, aber sie konnte nicht. «Was ist mit dem Jugendamt?»
«Weißt du, was der beste Witz ist?»
Sara wartete.
«Lane Kendall hat früher selbst beim Jugendamt gearbeitet.»
«Nein», sagte Sara. Sie konnte es nicht glauben.
«Doch», beharrte Nell. «Vor ungefähr fünfzehn Jahren war sie Sachbearbeiterin beim Jugendamt. Bis sie auf dem Weg zu einem Hausbesuch einen Autounfall hatte. Sie hat das County und den Staat verklagt und was weiß ich wen noch. Egal, was für einen Schaden sie davongetragen hat, nach der außergerichtlichen Einigung ist sie zumindest nicht arm.»
«Und wofür gibt sie das Geld aus?»
«Jedenfalls nicht für die Kinder», antwortete Nell grimmig. «Das Problem ist, dass sie weiß, wie der Hase läuft.Sie schafft es jedes Mal, dass ihr die Kinder doch nicht weggenommen werden. Beim Jugendamt haben sie Angst vor ihr. Wenn Hoss nicht ab und zu nach dem Rechten schauen würde, würde sie die zwei Jungs wahrscheinlich in den Schrank sperren und den Schlüssel wegwerfen.»
«Was hat der Kleine für eine Krankheit?»
«Irgend so eine Blutkrankheit», sagte Nell. «Er kriegt ständig Transfusionen.»
«Ein Bluter?» Sara nahm an, Nell meinte Infusionen. Selbst in einer so kleinen Stadt wie Sylacauga müssten die Ärzte Bescheid wissen.
«Nein, was anderes, ein Bluter ist er nicht», widersprach Nell. «Aber ich bin sicher, dass der Staat für die Rechnungen aufkommt.»
Sara ließ sich in die Couch sinken. Sie war schrecklich erschöpft. Die zwei Frauen saßen schweigend da, bis es plötzlich aus Sara herausbrach: «Ich bin vergewaltigt worden.»
Zum ersten Mal hatte Nell keine Antwort parat.
«Ich habe es noch nie laut gesagt», sagte Sara. «Ich meine, dieses Wort. Ich sage immer, dass ich überfallen wurde oder angegriffen …» Sie presste die Lippen zusammen. «Ich bin vergewaltigt worden.»
Nell ließ ihr Zeit, sich zu sammeln.
«Es ist damals passiert, als ich in Atlanta arbeitete», sagte Sara. «Jeffrey weiß nichts davon.» Sie zupfte einen Faden aus dem Sofakissen.
Nell wartete einen Moment, dann sagte sie: «Da haben wir wohl beide unsere Geheimnisse vor
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