Schattenblume
hat Julia sich in Handarbeiten mit der Schere geschnitten, ziemlich tief. Keine Ahnung, ob es ein Unfall war. Jedenfalls hat sie nicht länger geblutet als jeder normale Mensch.»
«Wenn sie so was wie das Willebrand-Syndrom hätte, wäre es lebensgefährlich gewesen, wenn sie nicht medizinisch behandelt worden wäre», sagte Sara. «Außerdem wären außer ihr noch andere in der Familie betroffen, und Lane hat eben selbst gesagt, dass das nicht der Fall ist.»
«Also denkst du, dass die Krankheit vom Vater kommt?», fragte Nell. «Ich kenne niemanden in der ganzen Stadt, der so was hat.» Sie setzte nach: «Vor allem Robert nicht. Er wurde auf dem Sportplatz regelmäßig übel zugerichtet, und es hat nie etwas ausgemacht.»
«Für Jeffrey gilt das Gleiche», sagte Sara. Sie erinnerte sich, wie sie ihm einmal Blut abgenommen hatte. Er hatte nicht stärker geblutet als normal. Plötzlich schämte sich Sara allein für den Gedanken. Sie hatte nie geglaubt, dass Jeffrey für eins der beiden Verbrechen verantwortlich sein könnte, doch tief in ihrem Innern war sie erleichtert, einen unanfechtbaren Beweis zu haben.
«Ich könnte mich mal umhören», schlug Nell vor.
«Es gibt graduelle Unterschiede», sagte Sara. «Manche haben es und wissen es gar nicht. Bei Frauen ist es wegender Monatsblutung leichter festzustellen. Normalerweise wissen sie, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es muss also vom Vater kommen.»
«Eine Nadel im Heuhafen», sagte Nell. «Wer weiß, vielleicht hatte es Dan Phillips.» Sara sah sie fragend an. «Der, der zur gleichen Zeit abgehauen ist wie Julia.» Sie griff nach dem Album und blätterte weiter. «Hier», sagte sie und zeigte auf einen jungen Mann, der in der hinteren Reihe des Mannschaftsfotos stand.
«Er sieht gar nicht wie ein Footballspieler aus», bemerkte Sara. Phillips war schmal und trug das schwarze Haar nach hinten gekämmt.
«Er war beim Training dabei. Den Kerlen ging es doch nur darum, im Team zu sein und die Letterman-Jacke zu tragen. Wenn du in den Heimwerkerladen gehst, hörst du sie heute noch von damals reden, als hätten sie den verdammten Superbowl gewonnen.»
«Die gute alte Zeit», seufzte Sara. In Grant County war es dasselbe. Sie blätterte die Seite um und sah sich die anderen Fotos an. Sie entdeckte einen Schnappschuss in Schwarzweiß von Jared vor ein paar Jahren. «Er wird mal ein hübscher Mann.»
«Du wirst es Jeffrey doch nicht erzählen, oder?» Nell lächelte gezwungen. «Du brauchst nicht zu antworten.» Nell legte das Album zurück in das Fach unter dem Couchtisch. «Willst du immer noch abfahren?»
«Ich weiß nicht.»
«Bleib noch.» Nell tätschelte ihr das Bein. «Ich backe heute Abend Maisbrot.»
«Wo ist Robert?»
«Possum ist mit ihm Klamotten kaufen gegangen», sagte sie. «Robert wollte nicht ins Haus zurück, und werweiß, was Jessie bei ihrer Mutter mit seinem Zeug gemacht hat.»
«Was ist mit ihm?»
«Er wird schon wieder.»
«Nein», sagte Sara, «ich meine, was ist mit Robert? Wir haben die ganze Zeit von Jeffrey gesprochen. Hast du je geglaubt, Robert könnte etwas mit Julia zu tun gehabt haben?»
Nell dachte nach, bevor sie antwortete. «Er hatte immer seine Geheimnisse.»
«Inwiefern?»
«Vielleicht ist ‹Geheimnis› das falsche Wort. Er ist einfach sehr zurückhaltend. Redet nicht viel über seine Gefühle.»
«Jeffrey auch nicht.»
«Das ist was anderes. Robert lässt niemanden näher an sich ran.» Sie sank in die Couch zurück. «Alle haben immer gedacht, dass Possum der Außenseiter war, aber ich glaube, eigentlich war es Robert. Er war immer ein bisschen anders. Nicht dass Jeffrey ihn so behandelt hätte. Robert hat immer abgewartet, was Jeffrey tat, bevor er gehandelt hat.»
«Aber das ist bei Teenagern doch ganz normal.»
«Es war mehr als das», sagte Nell. «Wenn Jeffrey in Schwierigkeiten geriet, nahm Robert die Schuld auf sich. Er war Jeffreys Sicherheitsnetz, und Jeffrey hat es akzeptiert.» Sie sah Sara an. «Kaum dass Jeffrey weg war, hat Robert das Gleiche für Hoss gemacht. Er würde für beide jederzeit den Kopf hinhalten, und das ist nicht übertrieben.»
Sara zögerte, dann sagte sie: «Robert sagt, er hätte Julia umgebracht.»
Irgendwas an Nells Ausdruck veränderte sich, doch Sara kam nicht drauf, was es war. Auch ihre Stimme klang plötzlich anders. «Das kann ich mir nicht vorstellen.»
«Nein», sagte Sara. «Ich mir auch nicht.»
KAPITEL ZWANZIG
J effrey entdeckte den Impala seiner
Weitere Kostenlose Bücher