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Schattenblume

Schattenblume

Titel: Schattenblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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würde, hier rauszukommen. Wenn sie vorwärts schaukelte, würde sie mit dem Gesicht voraus auf dem Boden landen,also lehnte sie sich seitwärts, bis sie den Stuhl zum Kippen brachte.
    Sie krachte mit dem Kopf auf die Dielen, und wieder wurde ihr schwindelig. Ein heftiger Schmerz schoss durch ihre Schulter, aber auch die Armlehne hatte sich durch den Aufprall gelockert. Sie riss mehrmals an dem Holz, doch die Lehne hielt. Der Schaukelstuhl war wahrscheinlich älter als sie alle zusammen, von Nells Vorfahren für die Ewigkeit gebaut.
    Sara holte Luft und versuchte nachzudenken. Wegen der Kufen des Schaukelstuhls konnte sie sich nicht einfach auf alle viere drehen und in den Flur kriechen. Robert hatte ihre Handgelenke gefesselt, doch nicht die Finger. Wenn sie nicht vom Stuhl loskam, konnte sie wenigstens versuchen, sich das Band vom Mund zu reißen. Dann könnte sie schreien. Wenn sie nur schreien könnte – selbst wenn sie niemand hörte   –, wäre alles gut.
    Mit aller Kraft versuchte Sara, mit der Hand an ihren Mund zu kommen. Nach ein paar Minuten hatte sich das Klebeband in einen dünnen Streifen verwandelt, der ihr ins Fleisch schnitt, doch Sara zerrte weiter und dehnte das Band bis zum Äußersten. Als das Band nicht mehr nachgab, rieb sie den Arm hin und her. Sie schürfte sich die Haut auf, der Klebstoff formte schwarze Krümel, doch Sara schaffte es, den Arm noch ein paar Zentimeter mehr zu bewegen. Doch jetzt riss die Haut auf, Blut begann unter der Fessel hervorzusickern.
    Sara versuchte, die Situation wie eine Mathematikaufgabe anzugehen. Sie bedachte die Variablen und kalkulierte ihre Schmerzgrenze ein. Dann versuchte sie, den Oberkörper freizubekommen, drückte den Rücken durch, so weit es das Klebeband erlaubte, und verrenkte sich, bisihre Schulter vor Schmerz raste. Doch sie gab nicht auf, sondern wand sich, zerrte und riss, bis sie es schaffte, die Hand bis auf wenige Zentimeter an den Mund heranzuführen. Ihre Finger waren schon ganz weiß, weil kein Blut mehr zirkulierte, doch schließlich schaffte Sara es, den Knebel mit dem Mittelfinger zu berühren.
    Sie genehmigte sich eine kurze Erholungspause und zählte bis sechzig, ihr Arm und die Schulter pochten dumpf. Sie hatte das Klebeband berührt. Das reichte, damit sie nicht aufgab. Jetzt versuchte Sara es noch einmal mit aller Kraft. Schweiß und Blut und Speichel hatten dem Klebstoff zugesetzt, und mit letzter Anstrengung schaffte sie es, ein Ende des Klebebands zwischen die Finger zu bekommen und zu ziehen.
    Aber ihre Kraft reichte nicht.
    Das Atmen wurde schwerer, und wieder hatte sie das Gefühl, dass sich der Raum um sie drehte. Doch sie zwang sich, nicht aufzugeben, so nah vor dem Ziel. Trotz der Schmerzen schaffte sie es, ein letztes Mal all ihre Kräfte zusammenzunehmen. Diesmal gelang es ihr, das Klebeband abzuziehen. Sie riss den Mund auf, schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender.
    «Ha!», schrie sie in den leeren Raum, als hätte sie gerade einen übermächtigen Feind besiegt. Vielleicht hatte sie das auch. Vielleicht hatte sie ihre Angst besiegt. Doch sie war immer noch an einen Stuhl gefesselt, lag noch immer mit dem Gesicht auf den Dielen.
    Nicht aufgeben, dachte Sara. Dieses Motto hatte sie durch das Medizinstudium gebracht.
    Sie konzentrierte sich auf ihren Arm und überlegte, ob sie das Klebeband zwischen die Zähne bekommen könnte. Das Band schnitt ihr in die Brust, sie wollte gar nicht darandenken, wie die Quetschungen aussehen würden. Doch Sara wusste, dass blaue Flecken irgendwann wieder verschwanden.
    Plötzlich hörte sie ein Geräusch vorn im Haus. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, doch dann zögerte sie. Hatte Robert seine Meinung geändert? Kam er zurück, um sein Werk zu vollenden?
    Schritte knirschten auf dem Glas des zerbrochenen Couchtischs, aber keiner rief. Wer auch immer ins Haus gekommen war, er ließ sich Zeit. Langsam ging er von Zimmer zu Zimmer. Sie hörte ein Geräusch aus der Küche. Hatte Robert nur etwas vergessen? Hatte er noch etwas anderes holen wollen außer Possums Pistole? Wenn es jemand war, der hierher gehörte, hätte er doch sicher gerufen.
    Sara biss die Zähne zusammen und versuchte den Schmerz zu unterdrücken, als sie an ihrer Hand riss. Sie wälzte und wand sich, so gut sie konnte, und hinterließ dabei tiefe Kratzer auf Nells schönen Dielen. Immer noch versuchte sie, das Klebeband zwischen die Zähne zu bekommen.
    «Sara?» In der Tür stand Jeffrey, Nells Axt in der Hand.

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