Schattenblume
haben.»
Jeffrey schloss die Haustür. Er wollte nicht, dass jemand ihre Unterhaltung mit anhörte. Durch das schmale Fenster in der Tür sah er, wie die Hilfssheriffs mit dem Fahrer des Krankenwagens sprachen, der gerade angekommen war.
Sara sagte: «Von dem Schrei bis zum ersten Schuss hat es eine Weile gedauert.»
Er versuchte sich zu erinnern, doch es gelang ihm nicht. Trotzdem sagte er: «So ist es nicht passiert.»
«Der Schuss ist erst nach ein paar Sekunden gefallen.»
«Wie viele Sekunden?»
«Vielleicht fünf.»
«Weißt du, wie lang fünf Sekunden sind?»
«Weißt du es?»
Er sah, wie Hoss’ Wagen am Straßenrand hielt. Es war noch derselbe schäbige Streifenwagen wie damals, als Jeffrey ein Teenager war. In der elften Klasse hatten Jeffrey und Robert den Wagen jedes Wochenende waschen müssen, als Strafe dafür, dass sie in der Schule einen armen Neuntklässler mit Paketband an den Wasserspender gefesselt hatten.
«Na gut», lenkte Jeffrey ein. Er wollte das hier endlich hinter sich bringen. «Fünf Sekunden. Das passt doch zu ihrer Geschichte – sie hat geschrien, Robert hat ihn weggestoßen, er hat geschossen. Das könnte fünf Sekunden dauern.»
Sie starrte ihn an. Er wusste nicht, ob sie ihn für einen Idioten oder einen Lügner hielt. Doch sie überraschte ihn, indem sie sagte: «Ich kann mich nicht erinnern, was sie gesagt haben, ob sie zuerst geschrien hat oder er den Kerl erst weggestoßen hat.» Dann setzte sie nach, wahrscheinlich aus purer Boshaftigkeit: «Wenn du Robert helfen willst, seine Geschichte zurechtzubiegen, solltest du es tun, bevor er eine offizielle Aussage macht.»
Jeffrey beobachtete, wie Hoss mit den Hilfssheriffs redete. Er trug eine Anglerweste und einen alten zerknitterten Hut, an dessen Krempe Köder steckten. Jeffrey spürte, dass Angst in ihm aufstieg.
Er sagte: «Der zweite Schuss ist erst gefallen, als ich schon bei dir war. Das war wie viel später, nochmal zehn Sekunden?»
«Ich weiß nicht. Auf jeden Fall nicht gleich.»
«Vielleicht hat Robert seine Waffe gesucht.»
«Stimmt.» Dass sie ihm Recht gab, überraschte ihn wieder.
«Und der nächste Schuss kam wenige Sekunden danach, oder?» Als sie nicht antwortete, sagte er: «Vielleicht zwei oder drei Sekunden später?»
«Ungefähr.»
«Das könnte passen», beharrte er. «Der Typ schießt auf ihn, Robert geht seine Waffe holen. Es ist dunkel, er findet sie zuerst nicht. Während er sucht, wird er angeschossen, aber dann schafft er es doch noch zurückzuschießen.»
Sie nickte, doch überzeugt wirkte sie nicht. Jeffrey ahnte, dass sie ihm etwas verschwieg, und dabei lief ihnen die Zeit davon.
«He», sagte er. Am liebsten hätte er sie geschüttelt. «Was verschweigst du mir?»
«Nichts.»
«Ich meine es ernst, Sara. Da ist doch noch was.»
Ohne zu antworten, blickte sie aus dem Fenster.
Hoss stand immer noch am anderen Ende der Auffahrt. Der Krankenwagen gab ein Piepen von sich, als er rückwärts in die Auffahrt fuhr. Mit jedem Piepen schien Jeffreys Frust größer zu werden, und als Sara das Haus verlassen wollte, packte er sie am Arm.
Überrascht rief sie: «Was machst du –»
«Kein Wort zu ihm», warnte er sie. In diesem Moment hatte er das Gefühl, die Welt drohte in Stücke zu brechen, und er konnte es nicht aufhalten. Wenn Sara nur ein paar Stunden schweigen könnte, würde er der Sache selbst auf den Grund kommen.
Sara versuchte sich loszureißen und funkelte ihn entrüstet an. «Lass mich.»
«Versprich es mir.»
«Lass mich», wiederholte sie und riss sich los.
Jeffrey war so wütend und verzweifelt, dass er mit der Faust gegen die Wand schlug. Sara zuckte zusammen. In ihren Augen flackerte Angst, dann purer Hass.
«Sara», sagte er. Er hob die Hände und trat einen Schritt zurück. «Ich wollte nicht …»
Ihr Mund wurde zu einer schmalen Linie. Ihre Stimme war tiefer als gewöhnlich, als bemühe sie sich, nicht zu schreien. Er hatte sie noch nie richtig wütend gesehen, und etwas an ihrer Beherrschtheit jagte ihm mehr Furcht ein, als wenn sie ihm eine Kanone an den Kopf gehalten hätte.
«Hör gut zu», zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. «Du kannst mich nicht einschüchtern!»
Er versuchte sie zu beruhigen. «Ich wollte dich nicht …»
Sie wich zurück. «Und wenn du mich noch ein Mal anfasst, dann bringe ich dich mit bloßen Händen um.»
Jeffrey stockte das Herz. Wenn sie ihn so ansah, fühlte er sich dreckig und gemein, wie der
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