Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenblume

Schattenblume

Titel: Schattenblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
Vom Netzwerk:
Possum Sara von ihrem letzten erfolgreichen Spiel gegen die Comer High erzählt. Wie er die Geschichte verklärte, war Jeffrey peinlich und machte ihn traurig. Possum war immer ihr größter Fan gewesen.
    Hoss fragte: «Was zum Teufel ist heute Nacht hier passiert?»
    «Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Zimmer», sagte Jeffrey, ohne die Frage zu beantworten. «Sara und ich waren draußen auf der Straße, als wir Jessie schreien hörten.» Er biss sich auf die Innenseiten der Wangen, als sie den Flur hinuntergingen. Was er verschwieg, lag ihm schwer im Magen.
    Wie gewöhnlich konnte Hoss seine Gedanken lesen. «Ist was nicht in Ordnung, Junge?»
    «Nein, Sir», antwortete Jeffrey. «Es war einfach nur eine lange Nacht.»
    Hoss schlug Jeffrey so kräftig auf den Rücken, dass er husten musste. Das war seine Art, Zuneigung zu zeigen. «Du bist ein harter Knochen. Du schaffst das schon.» Vor der Schlafzimmertür blieb er stehen. «Meine Güte», murmelte er. «Hier sieht’s ja aus.»
    «Ja», stimmte Jeffrey zu. Er versuchte, den Tatort mit den Augen von Hoss zu sehen. Der Deckenventilator surrte immer noch, doch man sah, dass er abgestellt gewesen sein musste, als der Mann erschossen wurde. Die Rotorblätter zeichneten sich in den Blutspritzern an der Decke ab. Der Schalter war blutverschmiert, wahrscheinlich hatte Robert ihn angestellt. Das war nur logisch. Er wollte das Licht anmachen, um nachzusehen, wie schwer er verwundet war. Es war auch logisch, dass zwischen den letzten beiden Schüssen ein paar Sekunden vergingen. Robert war den Umgang mit Waffen gewöhnt, seit er acht Jahre alt war. Er hätte nie ins Dunkle gefeuert. Wahrscheinlich hatte er seine Augen erst an die Dunkelheit gewöhnt, um zu sehen, wo Jessie war. Wie Jeffrey sie kannte, hatte sie wahrscheinlich hilflos in einer Ecke gestanden. Es sah Robert ähnlich, dass er sich Zeit genommen hatte.
    Hoss sah aus dem Fenster. «Das Fliegengitter wurde eingedrückt», stellte er fest. Jeffrey wusste immer noch nicht, ob von innen oder von außen, aber keine Macht der Welt hätte ihn nochmal in das Zimmer gebracht. Er würde sich draußen umsehen, wenn Hoss weg war.
    Hoss fragte: «Was hat Robert gesagt?»
    Jeffrey suchte nach einer Antwort, doch Hoss winkte ab.
    «Ich frag ihn dann selbst.» Jeffrey war die Überraschung wohl anzusehen, denn Hoss erklärte: «Und du kannst deine Aussage morgen machen, wenn du dein Mädchen aufs Revier bringst.»
    Nach dem Blick, den Sara ihm zugeworfen hatte, als sie ging, war Jeffrey nicht sicher, ob er morgen noch ein Mädchen hatte, aber das behielt er für sich. Stattdessen beobachtete er, wie Hoss durch das Zimmer ging. Wenn er daran dachte, was er zurückhielt, zog sich sein Magenzusammen. Das war der eigentliche Grund, warum Jeffrey nie eine Verbrecherlaufbahn angestrebt hatte. Anders als Jimmy Tolliver konnte Jeffrey mit einem schlechten Gewissen nachts nicht schlafen. Er hasste Lügen – vielleicht, weil seine ganze Kindheit voll davon gewesen war. Seine Mutter bestritt, dass sein Vater der Verbrechen schuldig war, wegen denen er saß; sein Vater bestritt, dass seine Mutter ein Alkoholproblem hatte. Und zur gleichen Zeit band der junge Jeffrey jedem, der es hören wollte, seine eigenen faustdicken Lügen auf. Er war von Sylacauga fortgegangen, um ein neuer Mensch zu werden. Doch kaum hatte er wieder einen Fuß auf heimatlichen Boden gesetzt, schlüpfte er in alte Gewohnheiten wie in ein Paar ausgetretener Galoschen.
    «Junge?», fragte Hoss. Er stand immer noch am Fenster. Jeffrey sah, dass Hoss in einem von Jessies blutigen Fußabdrücken stand. Ein paar ihrer kleinen weißen Pillen waren unter seinem Stiefelabsatz zerstampft worden.
    «Sir?», antwortete Jeffrey und dachte, dass Hoss wahrscheinlich genauso geschockt wie er selbst war. Jeder zeigte es nur auf eine andere Art.
    «Ich hab gesagt, für mich ist die Sache sonnenklar», sagte Hoss. Er stupste den Toten mit der Stiefelspitze an, und Jeffrey tat die Respektlosigkeit weh, mit der Hoss den Tod dieses Mannes behandelte. Doch so war es bei Hoss immer gewesen. Es gab die Guten, und es gab die Bösen, und um die einen zu schützen, tat man mit den anderen eben das, was getan werden musste. Hoss war mit Robert und Jeffrey zwar streng gewesen, doch er billigte nicht, dass irgendjemand schlecht über sie redete.
    Hoss hockte sich hin und betrachtete die Leiche. Das Gesicht war zum großen Teil von schulterlangem, fettigemblondem Haar bedeckt. Trotzdem fragte er:

Weitere Kostenlose Bücher