Schattenbruch
Mondschlunds geknechtete Seelen.«
Beklommen blickte Baniter auf die Menge, die sich in eine Raserei hineinsteigerte. »Aber was meinte er mit seiner Anklage? Was habe ich mit dem Krieg um die Sphäre zu schaffen?«
»Hört nicht auf ihn«, rief der Baumeister gereizt. »Denkt nicht mehr daran. Wichtig ist nur, auf welcher Seite Ihr steht. Für wen Ihr eintretet. Für die Menschheit, Baniter! Wir sind keine Sklaven. Wir können uns entscheiden. Uns von den Ränken der Zauberer befreien. Unser Schicksal in die eigene Hand nehmen.«
Er lotste Baniter in eine Gasse, die zwischen zwei turmhohen Bauten lag. Die Schatten schluckten alles Licht, und das Pflaster bestand aus dem Lehm des Verlieses, rissig und schwarz.
»Wo bringt Ihr mich diesmal hin, Sardresh? Wollt Ihr mich weiteren Geistern und neuen Verwirrungen aussetzen?«
Sardresh rieb seine dürren Finger. »Habt Geduld. Wir werden uns an einen Ort zurückziehen, wo wir ungestört sind. Damit ich Euch meinen endgültigen Entwurf der Stadt zeigen kann. Damit Ihr in Ruhe lesen könnt und der große Plan in Erfüllung geht.«
Es war ein mühsamer Aufstieg für Nhordukael; die Stufen der Treppe waren schmal und gaben bei jedem Schritt nach, waren nicht fest genug für seine Füße. Mehrfach drohte er auszugleiten, und die Führung der Wendeltreppe bereitete ihm Kopfschmerzen.
Der Turm schraubte sich immer weiter in die Höhe. Glam eilte voraus, seine Bewegungen mehr ein Gleiten als ein Schreiten. Nhordukael beobachtete ihn mit Argwohn; er wußte nicht, ob es klug war, dem Wesen zu flogen. Durch die Fensterbogen des Turms sah er auf die Stadt hinab. Sie war riesig, ihre Grenzen kaum auszumachen; denn sie bestand aus mehreren Ebenen, ihre hohen Gebäude durch Straßen und Plattformen miteinander verbunden: eine Stadt, die dem Himmel entgegenwuchs. Glitzerndes Gestein und goldene Dächer, stählerne Brücken und funkelnde Pagoden; das von oben einfallende Licht wurde von allen Fassaden reflektiert. Nie zuvor hatte Nhordukael solche Bauten gesehen: und auf den Treppen und Stegen konnte Nhordukael Menschen ausmachen, kleine umherwandelnde Punkte. Sie wirkten verloren, störten die makellose Schönheit der Szenerie.
»Dieser Ort ist monströs«, entfuhr es Nhordukael. »Niemand könnte in einer solchen Stadt ausharren, ohne den Verstand zu verlieren.«
Glam hielt auf den Stufen inne. Fühlte er sich von Nhordukaels Worten angegriffen? Nein, er wich zurück an die Wand, preßte sich gegen das Gestein und verschmolz mit ihm. Auf der Treppe aber war eine andere Gestalt erschienen: eine hagere Frau! Langsam schritt sie die Stufen herab. Ihr Haar war von weißen Strähnen durchzogen und das Gesicht golden geschminkt.
»Der Mensch wird sich anpassen müssen, wenn er überleben will.« Sie blieb einige Stufen über Nhordukael stehen. »Und die Stadt, die du dort draußen siehst, ist ohnehin nicht von Dauer - sie ist nur der Entwurf eines Hitzkopfes, der etwas übereifrig mit den Möglichkeiten der Wandlung herumspielt. Die endgültige Gestalt von Vara werden wir Menschen gemeinsam bestimmen, wenn wir alle hier versammelt sind.«
Nhordukael musterte sie. »Ich nehme an, daß du Sai’Kanee bist. In diesem Fall bin ich gespannt, was du mir zu sagen hast.«
»Glam hat dir also meinen Namen bereits verraten.« Sai'Kanee glättete ihren goldbestickten Mantel. In den Händen hielt sie einen Stab; er bestand aus einer schwarzen, brüchigen Substanz und war in mehrere Teile zersprungen. Goldene Drähte hielten ihn zusammen, und eine unheilvolle Magie ging von ihm aus. »Mondschlund verkündete mir dein Kommen. Er hatte gehofft, du würdest erst später die sen Ort entdecken. Doch nun bist du hier und wirst Zeuge der Veränderung sein.«
»Ich hatte nicht erwartet, eine Anhängerin Mondschlunds im Verlies zu finden.« Nhordukael spähte durch das Fenster auf die funkelnde Stadt. »Immer wieder warnte mich Mondschlund vor der Verwandlung der Sphäre, vor dem Feldzug der Goldei, vor Sternengängers Absichten. Nun sehe ich, daß auch er einen Plan verfolgt, und dieser gefällt mir ebensowenig.«
»Der Niedergang der Welt läßt sich nicht aufhalten«, erwiderte Sai'Kanee. »Doch was folgt dieser Wandlung? Welche Rolle fällt uns Menschen dabei zu? Das sind die Fragen, die du dir stellen solltest. Wir befinden uns in einem Krieg, der vor unserer Zeit begann. Nun aber naht die Entscheidung ! Wem wollen wir uns anvertrauen - jenem, der unsere Welt nach seinen Vorstellungen gestaltete
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