Schattenbrut (German Edition)
hätte er Angst vor der Antwort und Billy fühlte sich schuldig, dass sie ihn mit ihren Problemen konfrontieren musste.
»Ich weiß es nicht, aber ich gehe davon aus. Jemand wie Clarissa hat keine Feinde.«
»Sollen wir uns in dein Wohnzimmer setzen? Ich hole uns etwas zu trinken und du erzählst mir von deiner Freundin«, schlug er vor. Der distanzierte Mann, der sie noch vor zehn Minuten mit provokativen Fragen bombardiert hatte, schien verschwunden. In Orens schönen Augen lagen Wärme und Mitgefühl.
»Du bist unglaublich, Oren. Du bist neunzehn Jahre alt, hast selbst mehr als genug Probleme und schaffst es, mir das Gefühl zu geben, bei dir in Sicherheit zu sein.« Sie lächelte schwach.
»Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren.«
»Wen meinst du?«
Er schüttelte den Kopf und war für einen Moment wieder der verschlossene, junge Mann. Dann knuffte er ihr mit der Hand in die Seite. »Geh ins Wohnzimmer und setz dich hin. Ich komme gleich nach.«
Eine halbe Stunde später hatte sie das Gefühl, ihrem Sohn zum ersten Mal nahe zu sein, auch wenn sie die Möglichkeit sah, dass dies nur am Wein lag, der die Schranken niederriss. Sie hatte ihm von Julias Beerdigung erzählt, von ihrem Wiedersehen mit Clarissa und der engen Freundschaft, welche die beiden Frauen früher miteinander verbunden hatte. Kein Wort von deren Tod, doch in Orens Augen war erkennbar gewesen, dass er ahnte, wie es in ihr aussah. Keine hohlen Worte eines versuchten Trostes, sondern schlichte Anteilnahme. Es war, als sei er ein alter Freund.
»Verrätst du mir, wen du verloren hast?«, fragte sie schließlich in Anspielung auf seine vorherige Bemerkung.
Er nippte an seinem Glas und stellte es auf den Tisch. »Meinen Bruder.«
»Alon?« Sie erinnerte sich an den ungewöhnlichen Namen und erschrak. »Er ist tot?«
»Nein. Jedenfalls nicht im medizinischen Sinn. Er hatte im Alter von zehn Jahren einen Unfall.« Er schien durch Billy hindurchzusehen. »Wir waren früher fast jedes Sommerwochenende an einem See in der Nähe von Hannover. Alon war zwei Jahre jünger als ich, aber er war der Stärkere von uns beiden. Er schwamm weit hinaus, mindestens fünfhundert Meter, er wollte das andere Ufer erreichen. Dabei muss er einen Krampf bekommen haben. Ich sah, wie er mit den Händen ruderte, und rief meine Eltern. Doch als unser Vater die Stelle erreichte, war Alon schon untergegangen. Der See war keine drei Meter tief, aber es war ein heißer August, das Wasser war trübe von Algen von Sonnencreme, und es dauerte einige Minuten, bis mein Vater ihn gefunden und an Land gebracht hatte. Es dauerte einige Minuten zu lange, in denen er nicht atmete. Danach war er nicht mehr derselbe.«
Oren hatte erzählt, dass sein Bruder der Liebling seiner Eltern sei. Nun verstand sie. »Er ist behindert?«
»Er war früher Klassenbester. Nun geht er auf eine Behindertenschule, wo er den ganzen Tag lang töpfert und Vogelhäuser baut. Meine Mutter jubelt jedes Mal, wenn er es schafft, sich ohne fremde Hilfe anzuziehen.« Seine Stimme klang brüchig.
»Danke, dass du es mir erzählt hast.«
»Danke, dass du mir von dir erzählt hast.« Er verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. »Es tut mir leid, wenn ich vorhin so wütend war.«
»Ich kann dich verstehen.«
»Das glaube ich nicht.«
Billy neigte den Kopf. »Du willst wissen, wer ich bin, um zu erfahren, wer du selbst bist.«
Er murmelte etwas Unverständliches.
»Was hast du gesagt?«
Er grinste wieder. »Psychokacke.«
Sie lachte leise. Er hatte es geschafft, dass sie sich besser fühlte.
»Kann ich bei dir schlafen oder willst du lieber alleine sein«, fragte er plötzlich.
»Natürlich kannst du hier bleiben. Bist du müde?«
»Ein wenig.« Er klopfte neben sich auf die Sitzfläche. »Die Couch wäre super.«
Billy ahnte, dass er ebenso nachdenken wollte wie sie selbst, und stand auf. »Ich hole dir Bettzeug.«
Aus ihrem Schlafzimmer holte sie eine Decke und ein kleines Kissen, legte im Bad ein Handtuch bereit und fand sogar eine verpackte Einwegzahnbürste. Nachdem sie Oren eine gute Nacht gewünscht hatte, zog sie sich aus, stellte den Wecker und legte sich hin. Der Alkohol in ihrem Blut erlaubte ihr, den heutigen Abend Revue passieren zu lassen, ohne von den Gefühlen überwältigt zu werden. Als sie nach einer Weile in einen unruhigen Dämmerschlaf fiel, geisterten Bilder einer blau angelaufenen Clarissa mit hervortretenden, weit geöffneten Augen durch ihren Kopf. Sie war
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