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Schattenbrut (German Edition)

Schattenbrut (German Edition)

Titel: Schattenbrut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Seider
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ließ ihre Gedanken schweifen.

20.
     
    Schwere Basstöne vibrieren in ihren Glieder, während sie versucht, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Sie wirft einen Blick über ihre Schulter, doch sie kann ihn nicht sehen. Das schrille Lachen der anderen schmerzt in ihrem Trommelfell, Ellenbogen bohren sie sich in ihre Seite und es stinkt erbärmlich nach Erbrochen.
    Plötzlich begreift sie, dass sie in die falsche Richtung geht, dass er irgendwo vorne bereits auf sie lauert. Sie will sich umdrehen, doch ihre Beine gehorchen ihr nicht. Immer tiefer hinein in die Menschenmenge. Alle sind viel größer als sie selbst. Sie japst nach Luft.
    Ich will hier raus!
    Tausende unsichtbare Augen beobachten sie aus den Wänden heraus, während die anderen um sie herum sie ignorieren. Es ist, als gehöre sie zu jenen unsichtbaren Wesen, die sie anstarren, gierig und lüstern. Immer noch schreiten ihre Beine ununterbrochen fort, bis plötzlich ein Gesicht vor ihr auftaucht und grinst. Eiskalte Finger fahren über ihren Hals.
    »Einen Campari-Sekt für die Lady!« Seine Stimme hallt aus allen Richtungen, sie sieht den Speichel zwischen den Lippen des Mannes hervorfließen.
    »Ich trinke nur Wasser«, gibt sie knapp zurück, und ihre Worte bilden sofort ein unheimliches Echo. Nurwassernurwasser, kommt es von überall auf sie zu und sie zieht den Kopf ein.
    Der Mann kommt näher, dort, wo seine Augen weiß sein sollten, sind sie dunkelgelb, der Speichel hat hässliche Schlieren auf seinem Hemd hinterlassen. Sie muss würgen. Er soll es nicht sehen.
    »Arrogante Schlampe«, ruft er und plötzlich richten sich alle Blicke auf sie. Sie merkt, dass sie nicht unsichtbar ist. Sie wünscht, sie wäre es. Seine Stimme hallt aus allen Richtungen.
    »Ich bin nicht arrogant«, hört sie sich selbst sagen, aber die Laute gehen unter im Murmeln der anderen.
    »Schlampe!«
    Sie schützt ihren Kopf mit den Armen und macht sich so klein es geht. Er packt sie an den Haaren und zieht sie hoch. Es tut weh. Immer höher zieht er sie. Kalt und windig ist es jetzt. Es kostet Mut, die Augen zu öffnen. Die Decke des Raumes ist verschwunden, sie hängt irgendwo im Himmel und sieht aus unendlicher Entfernung auf die Menge der anderen, die dicht aneinandergedrängt innerhalb der vier Wände stehen, auf denen früher einmal ein Dach war. Trotz der hohen Entfernung kann sie jedes Gesicht genau erkennen. Die Augen blicken entrüstet, verwundert, mitleidig und schadenfroh. Auch der Mann steht da unten. Warum hat er sie nicht festgehalten? Sie merkt, dass sie frei schwebt. Das ist nicht richtig, denkt sie. Niemand kann frei schweben. Im nächsten Augenblick beginnt sie, zu fallen. Immer schneller, hinein in die schwarze Hölle. Sie will schreien, doch es geht nicht. Entsetzt reißt sie die Augen auf.
     
    Mit klopfendem Herzen lag Billy auf dem Rücken und schlug die klamme Decke zurück. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es fünf Uhr am Morgen war.
    Ein verrückter Traum.
    Beklemmend real.
    Sie stieß die Luft durch ihre Lippen. Etwas hing an dem Traum. Eine Botschaft. Sie fühlte es, ohne zu wissen, warum. Und was genau die Botschaft war. Es waren die Bilder jenes Abends gewesen, an dem sie nach ihrem Rückzug nach Emmendingen in der Blume gewesen war. Der widerliche Kerl, sein gieriger Blick, ihre eigene Verteidigungshaltung, der stumme Wunsch, fliehen zu wollen. Doch was hatten diese Bilder in der Gegenwart zu suchen? Ging es um dieses Lokal? Wollte ihr Unterbewusstsein sie an etwas erinnern, was in der Blume geschehen war? Bei dem Treffen mit Oren? Sie überlegte fieberhaft, doch ihr fiel nichts ein. Vielleicht war es die defensive Haltung, die sie gegenüber dem Kerl an den Tag gelegt hatte. Hatte sie sich auch während der letzten Tage zu defensiv verhalten? Sie dachte wieder an Oren. Vielleicht war das die Botschaft des Traumes gewesen?
    Diese Lösung war nicht befriedigend. Ein Frösteln schüttelte ihren Körper, und sie zog die Decke wieder hoch und klemmte sie hinter ihren Schultern fest, um keinen Hauch der kühlen Luft an ihren Körper zu lassen. Eine Weile lag sie nur da, starrte an die Zimmerdecke und hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Schließlich knipste sie die Lampe an, griff nach Tamys Heftroman, den sie am Abend zuvor neben das Bett gelegt hatte, und drehte sich auf den Bauch. Sie schlug das Heft auf, überblätterte das Impressum und begann mit dem ersten Absatz. Die blumige Beschreibung einer nächtlichen Moorlandschaft. Eine

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