Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenbrut (German Edition)

Schattenbrut (German Edition)

Titel: Schattenbrut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Seider
Vom Netzwerk:
düstere Gestalt mit langem, wehenden Mantel und tief in die Stirn gezogener Mütze. Die Gestalt trägt einen massig wirkenden, aber nicht näher erkennbaren Gegenstand in der Hand. Man hört das schaurige Gekreische einer Eule.
    Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, während sie sich fragte, ob Eulen wirklich im Moor lebten. Sie klappte das Heft zu und ließ es auf den Boden fallen. Sie drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme unter ihrem Kopf. Clarissa fiel ihr ein. Sie dachte an das letzte Gespräch, das sie mit ihr geführt hatte. Clarissa hatte ihr etwas mitteilen wollen. Das war nur ein paar Tage her, aber es erschien ihr wie eine Ewigkeit. Ihr Herz klopfte gleichmäßig, aber ein feiner Strom der Unruhe schien durch ihre Gliedmaßen zu fließen. Ein Gedanke, der hervor wollte.

21.
     
    Es ist ein herrlicher Vormittag. Die Wiese glänzt, als sei sie von tausenden Kristalltropfen überzogen. Ein Eichhörnchen springt durch das nasse Gras und verschwindet im Wald. Ich lehne mit dem Rücken gegen den Stamm einer Lärche und betrachte das Haus. Aus den beiden Fenstern im Obergeschoss hängt Bettzeug. Der Anblick hat etwas Idyllisches. Der Duft nach Herbstlaub, Sonne und Kiefernnadeln umgibt mich und ich frage mich, ob die Kissen am Abend ebenso riechen.
    Hinter einem der unteren Glasfenster sehe ich eine schemenhafte Gestalt. Unmöglich, von hier aus Details zu erkennen, aber ich weiß dennoch, wer sie ist. Würde sie hinausschauen, könnte sie mich sehen. Aber sie ist zu beschäftigt. Ich beuge meinen Nacken nach hinten und spüre die harte Rinde am Hinterkopf. Noch ist es kühl, aber bald wird die Sonne die Luft wärmen und die Tropfen auf der Wiese trocknen. Es ist wie im Paradies hier. Unschuldig und rein. Die vertrauten Worte hallen in meinem Kopf. »Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, und bringe ihn mir zum Opfer dar.« Ich liebe die Geschichte von Abraham, ich liebe sie, seit ich sie als Kind zum ersten Mal gehört habe. Gott, die Wahrheit, verlangt ein Opfer, so wie die Wahrheit immer Opfer verlangt. Und für Abraham ist die Wahrheit wichtiger als sein einziger Sohn Isaak. Er weiß, er kann der Wahrheit nicht entfliehen, und so tut er, was er tun muss. Natürlich hätte er auch anders handeln können. Er hätte sich weigern können, seinen kleinen Jungen verstecken und behüten, und wahrscheinlich hätten ihn alle in seinem Tun bestärkt. Wenn Gott uns lieben würde, hätten sie gesagt, dann würde er so etwas nicht von uns verlangen. Niemand darf dir deinen Sohn wegnehmen, hätten sie gesagt, und sie hätten Abraham dabei geholfen, die Wahrheit zu leugnen.
    Doch Abraham wusste, dass die Wahrheit niemals geleugnet werden konnte, dass Isaak sterben würde, weil Gott es wollte, ob durch die Hände seines Vaters oder auf andere Weise.
    Doch Gott hat Isaak verschont. Weil Abraham stark genug war, sich für die Wahrheit zu entscheiden.
    Tausende Jahre später hat Gott seinen eigenen Sohn auf die Welt geschickt. Ich kann das Märchen der Sühne nicht glauben, es ergibt keinen Sinn. Eher vermute ich, dass Gott sein eigenes Kind am Kreuze opfern musste, als dieses begann, die Wahrheit zu leugnen.
    Es muss berauschend sein, Opfer zu bringen.
    Ich hebe meinen Kopf und betrachte wieder die beiden Fenster, aus denen die Bettgarnituren hängen. Mit welcher Decke sich wohl Billy gewärmt hat? Das Linke der unteren Fenster öffnet sich. Ich bücke mich und gebe vor, meine Schnürsenkel zu binden. Die Frau wirft einen kurzen Blick hinaus. Ich erhebe meinen Oberkörper und sehe sie an. Hat sie mich bemerkt?

22.
     
    Sie hatte gerade die Kanzlei erreicht und zog die Handbremse, da rief Eggert an.
    »Wir müssen Sie nochmal sprechen«, herrschte er sie an.
    Billy zog die Augenbrauen hoch, während sie den Schlüssel aus dem Zündschloss zog. »Und bestimmt sagen Sie mir nicht am Telefon, worum es geht.«
    »Wann können Sie da sein?«
    »Irgendwann muss ich auch mal arbeiten. Reicht es heute Abend?«
    »Nein, wir kommen aber gerne in Ihr Büro.« Er schnaufte im Hintergrund und sie sah förmlich sein spöttisches Grinsen vor sich.
    »Geben Sie mir eine Stunde«, fauchte sie und drückte die Verbindung weg. Die Beamten begannen, ihr gehörig auf die Nerven zu gehen. Sie sah auf die Uhr, bevor sie nach ihrer Tasche griff und ausstieg. Dreimal hatte sie heute bereits versucht, Oren zu erreichen, und jedes Mal hatte sich sofort eine automatische Ansage gemeldet und mitgeteilt, dass der

Weitere Kostenlose Bücher