Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
Wahrheit gesagt; sie erklärte mir, wenn nicht ein Feind oder eine Krankheit mich zur Unzeit niederstreckt, kann ich erwarten, sechs Jahrzehnte zu leben, vielleicht auch deren sieben oder acht, und selbst ein Leben von zehn Jahrzehnten ist in meiner Art nicht ohne Beispiel. Mehr aber nicht. Wie man mir berichtete, hat Lady Dasslerond sowohl den Anfang als auch das Ende von sechs Jahrhunderten miterlebt; sollte ich dagegen die Vollendung eines einzigen erleben, gelte ich in meiner Art bereits als ungewöhnlich und geradezu vom Glück verfolgt. Vermutlich wird sie sogar noch Zeugin meines Todes werden.
Schlimmer noch, nach sechs Jahrhunderten wirkt die Herrin von Caer’alfar noch genauso jugendlich und lebensfroh wie viele Touel’alfar, die weitaus jünger sind als sie. Sie kann ohne Mühe körperlich schwer arbeiten, mir dagegen hat man erklärt, dass ich genau mit solchen Mühen rechnen muss – und zwar bereits lange vor meinen alten Tagen. Ich lebe jetzt seit vierzehn Jahren und bin nach menschlichen Maßstäben noch immer kaum erwachsen, auch wenn ich über kräftige Arme und einen scharfen Verstand verfüge. In meinen Jugendjahren und in meinem dritten Lebensjahrzehnt werde ich körperlich aufblühen und gedeihen, dann aber wird der Verfall einsetzen, zunächst langsam während meiner vierten Lebensdekade, schließlich, wenn ich mein fünftes Lebensjahrzehnt durcheile, immer schneller.
Was ist das für ein Fluch?
Wie soll ich die Wunder dieser Welt kennen lernen? Wie soll ich die Erinnerungen an meine Weggefährten bewahren, selbst jene, die in dem langen Leben eines Touel’alfar so unbedeutend sind, einem kurzlebigen Menschen aber so wichtig erscheinen müssen? Wie soll ich die Geheimnisse dieser vernunftgesteuerten Existenz enträtseln, mir irgendeine Perspektive zurechtlegen, wenn mein Ende schon so bald naht?
Es ist ein ungemein grausamer Scherz, als Mensch geboren zu sein. Gehörte ich doch nur zum Volk! Wäre ich doch nur ein Touel’alfar! Könnte ich doch nur die Weisheit der Jahrhunderte erlangen, indem ich die Erfahrungen einer Frau wie Lady Dasslerond machen könnte! Mein Leben ist mir jeden Augenblick eines jeden Tages lieb und teuer, und mir vorzustellen, dass ich einst kalt und tot in der Erde liegen werde, während meine Freunde noch immer jung und voller Leben sind, zerreißt mir das Herz und treibt mir die Zornesröte ins Gesicht. Meine Bewacher sind voll des Lobes über meinen Vater, den großen und erhabenen Nachtvogel. Ich dagegen sage: Verflucht sei meine menschliche Herkunft!
Der tote Nachtvogel, kalt und ahnungslos in der Erde. Für die wenigen Touel’alfar, die zu Lebzeiten Nachtvogels starben, für Tuntun, die beim Angriff auf den geflügelten Dämonen auf dem Berg Aida fiel, gibt es nach dem Leben in dieser Welt noch eine andere Existenz. Sie werden an einem Ort voller Schönheit leben, der selbst Andur’Blough Inninness in den Schatten stellt, an einem Ort des Staunens und der puren Freude. Für Menschen aber, so erklärte mir Lady Dasslerond, folgen auf das Leben nur der kalte Tod und das Nichts.
Denn von den Völkern von Korona sind allein die Touel’alfar, die Dämonen und die Engel unsterblich. Nur diese drei sind in der Lage, ihre physische Existenz zu überwinden.
Verflucht seien meine Menscheneltern! Ich wünschte, ich wäre nie geboren, denn besser das, besser niemals davon zu erfahren, als das grausige Schicksal verstehen zu müssen, das mich zweifellos erwartet!
Verflucht seien meine Eltern.
AYDRIAN VON CAER’ALFAR
1. Die zweite Dimension
»Dein Körper ist das Medium«, erklärte Lady Dasslerond, nach Kräften bemüht, sich ihre Aufgebrachtheit nicht anmerken zu lassen. Sie ließ sich rücklings gegen eine Birke sinken, zauste ihre nahezu durchsichtigen Elfenflügel und warf achtlos den Kopf in den Nacken, sodass ihre goldenen Locken über ihre zarten Schultern fielen. Da sie bereits seit Jahrhunderten intensiv mit ihren mächtigen Smaragdsteinen arbeitete, war sie die einzige Elfe, die die Kräfte der magischen Steine wirklich verstand. Aus diesem Grund hatte Dasslerond diesen Teil von Aydrians Ausbildung persönlich übernommen; es war das allererste Mal, dass ein Mensch von jemandem aus dem Volk der Touel’alfar an den magischen Steinen ausgebildet wurde.
Der junge Bursche, der Dassleronds Körpergröße von vier Fuß um nahezu anderthalb Fuß überragte, verzog das Gesicht und umklammerte den Stein, einen Blitze erzeugenden Graphit, nur noch fester, so
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