Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
Euch je der Gedanke gekommen, dass ich Chasewind Manor nur deshalb ohne Begleitung verlassen habe, weil ich ein wenig allein sein wollte?«, fragte Jilseponie. Trotz ihrer leicht vorwurfsvollen Frage hatte sie ein Lächeln auf den Lippen.
»Aber wir doch auch!«, erwiderte Abt Braumin, während er schnaufend und völlig außer Atem näher rückte, um sich neben ihr niederzulassen. »Nur wir drei, ganz allein.«
Jilseponie seufzte nur und schloss die Augen.
»Also, mit dieser Einstellung werdet Ihr das Segel nie zu sehen bekommen«, neckte Braumin sie gut gelaunt.
Sie öffnete ein Auge und sah den Mönch fragend an. »Das Segel?«
»Aber ja, so wird der Frühlingsmond doch wohl genannt, oder etwa nicht, Meister Viscenti?«, fragte Braumin in gespieltem Erstaunen.
Viscenti blickte auf und kratzte sich am Kinn. »Ich denke ja, so wird es sein, Bruder«, erwiderte er.
Jilseponie wusste, wann sie auf den Arm genommen wurde, und als das geklärt war, verstand sie auch, auf welches Segel Braumin anspielte. Ganz so einfach wollte sie es ihm aber nicht machen.
»Ich sehe jede Menge Segel – oder zumindest Masten«, entgegnete sie. »Aber jetzt, da Kapitän Al’u’mets Saudi Jacintha am Mantis Arm vor Anker liegt, ist keines von ihnen für mich von Interesse.«
»Was Ihr nicht sagt«, meinte Braumin. »Sollte es die Baronesse von Palmaris wirklich nicht interessieren, wenn ihr König in die Stadt einläuft?«
»Diese Respektlosigkeit gegenüber dem Königreich!«, warf Viscenti ein und legte sich in einer Geste gespielter Verzweiflung seinen dürren Unterarm vor die Stirn.
Jilseponie blickte finster drein, aber eigentlich hatte sie nichts gegen diese Sticheleien. Es war allgemein bekannt, dass König Danube Brock Ursal die Absicht hatte, diesen Sommer, wie auch schon die beiden letzten und die zwei davor, in Palmaris zu verbringen – auch wenn er jene beiden Male eingetroffen war, nur um festzustellen, dass die Baroness der Stadt ihren Amtssitz verlassen hatte und nach Norden in die Waldlande abgereist war, um dort den Sommer mit Freunden zu verbringen. In diesem Jahr, wie auch schon in den beiden davor, war Danube sorgsam darauf bedacht gewesen, seine Ankunft vorab anzukündigen und persönlich um Jilseponies Anwesenheit während seines ausgedehnten Aufenthalts zu ersuchen. Und da es für das ganze Volk kein Geheimnis war, dass König Danube ihre Stadt in diesem Sommer im Jahr des Herrn 839 erneut beehren würde, so wusste auch jeder in Palmaris und Ursal sowie in allen Städten dazwischen, dass ihr König nicht wegen dringender Staatsgeschäfte kam, nicht einmal, um sicherzustellen, dass es Palmaris unter der Regentschaft der jungen Baroness wohl erging. Nein, er kam aus einem ganz persönlichen Grund, und der trug den Namen Jilseponie Wyndon.
»Was meint Ihr, werter Bruder, wird die zurückhaltende Jilseponie König Danube in diesem Sommer endlich erlauben, sie zu küssen?«, fragte Braumin.
»Auf die Hand«, erwiderte Viscenti.
»Dann wird ja Eure Wange feucht, wenn ich Euch eine Ohrfeige gebe«, warf Jilseponie lachend ein.
Die beiden Mönche lachten herzhaft über diesen Scherz, dann aber wurde Braumins Miene ernst. »Ihr seid Euch doch im Klaren, dass er diesmal mit seinen Absichten weniger zurückhaltend sein wird?«, fragte er.
Jilseponie wandte den Blick ab und sah wieder zum fernen Fluss hinüber. »Bin ich«, gestand sie.
»Und wie werdet Ihr Euch verhalten?«, wollte Braumin wissen.
Wie, in der Tat? , fragte sich die junge Frau. Sie mochte Danube Brock Ursal durchaus – wer würde das nicht? –, schließlich hatte sich der König ihr gegenüber stets höflich, fair und edelmütig gezeigt. Obwohl er einige Jahre älter war als sie, fast so alt wie Braumin, war er mit seinem dunklen Haar und seiner kräftigen Statur zweifellos recht ansehnlich. Ja, Jilseponie mochte ihn und müsste nicht lange überlegen, ob sie sich bereit erklären sollte, ihm während seines Aufenthalts in Palmaris als Gesellschafterin zu dienen, müsste nicht lange überlegen, ob ihre Beziehung sich vertiefen ließe, um zu sehen, ob nicht vielleicht doch Liebe daraus wurde, es sei denn …
Stets blieb das eine Problem, das Jilseponie klar erkannte. Sie hatte ihr Herz einem anderen geschenkt, Elbryan Wyndon, ihrem besten Freund und Ehemann, ihrem Geliebten, jenem Mann, an den kein anderer jemals wirklich würde heranreichen können. Sie mochte Danube aufrichtig, in ihrem Herzen aber wusste sie, dass sie den Mann niemals
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