Schattenelf - 3 - Der Herr der Flammen
Gab Juraviel jetzt eine sarkastische oder neckische Bemerkung zum Besten, ging auch Brynn allmählich wieder dazu über, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen, und gegen Ende der zweiten Woche tauschten die beiden sogar wieder Äußerungen aus, die länger waren als einzelne Sätze.
»Der Große Gürtel«, sagte Juraviel am Ende der dritten Woche nach dem Kampf gegen die Goblins, als Brynn Diredusk neben ihn lenkte. Sie standen auf einem Gebirgskamm, der oberhalb der Baumgrenze allmählich immer weiter angestiegen war, jetzt aber vor ihnen jäh in die Tiefe stürzte. Tief unter ihnen erstreckte sich ein weites, dichtes Waldgebiet, und ganz im Süden konnten sie die schroffe Silhouette eines fernen Gebirges erkennen.
Eines sehr fernen Gebirges, weswegen Juraviel sich beeilte, dem Anflug von Hoffnung, der Brynn überkam, sofort einen Dämpfer aufzusetzen. »Lass dich nicht täuschen. Die Gipfel dieser Berge sind gewaltiger als alles, was du dir vorstellen kannst.«
»Ich habe sie schon einmal durchquert«, erinnerte sie ihn. »Und bin an ihrem Südrand schon auf Wanderschaft gewesen.«
»Mag sein, aber damals warst du noch ein kleines Kind; das ist mittlerweile so lange her, dass du dich wohl kaum noch daran erinnern wirst, wie ungeheuer weitläufig sie sind.«
»Ich hatte sie als Kind täglich vor Augen, und zwar aus sehr viel größerer Nähe als von diesem Aussichtspunkt!«
»Richtig«, erwiderte Juraviel. »Aus erheblich größerer Nähe. Jetzt sehen wir sie in ihrer Gesamtheit vor uns, und mit jedem Tag werden sie uns ein wenig größer erscheinen. Und wenn wir sie schließlich erreicht haben, werden sie so hoch in den Himmel ragen, dass sie sogar das Sonnenlicht aussperren. Wir sind längst noch nicht am Ziel.«
Brynn schaute auf den Elfen hinab, der dastand und den Blick unverwandt gen Süden richtete. Überraschenderweise war ihre Verärgerung über Juraviels Bemerkung nicht von Dauer. Im Gegenteil, im Augenblick schätzte sie Juraviel durchaus, vielleicht sogar mehr als je zuvor seit ihrer Abreise aus Andur’Blough Inninness. Erst hier, in diesem Moment, das Ziel scheinbar vor Augen und immer noch endlos weit davon entfernt, begriff sie, welches Opfer ihr Freund und Ratgeber für sie brachte. Er war im Begriff, viele Monate, vielleicht sogar Jahre fern seiner Heimat und seiner Lieben zu verbringen, und wofür? Jedenfalls nicht, soweit Brynn erkennen konnte, seines persönlichen Vorteils wegen, sosehr Lady Dasslerond auch den To-gai-ru gegenüber den Behrenesern den Vorzug geben mochte. Wenn Juraviel in seine Heimat nach Andur’Blough Inninness zurückkehrte – vorausgesetzt, er überlebte den Krieg und kam überhaupt wieder nach Hause –, würde Brynns Erfolg oder Misserfolg in To-gai wohl kaum Einfluss auf seinen Alltag, seine täglichen Freuden und Kümmernisse haben. Was, genau genommen, scherte es Juraviel und die Touel’alfar überhaupt, ob To-gai-ru oder Behreneser über die winddurchtosten Steppen dieses fernen Landes herrschten?
Und doch war er hier und führte sie ihrem Ziel entgegen.
Brynn beugte sich ein Stück vor und legte ihren Arm um Juraviels schmale Schultern. Als er sich daraufhin, einen fragenden Ausdruck im Gesicht, zu ihr umwandte, lächelte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Und als er ihr Lächeln daraufhin erwiderte, nickte sie – wortloses Bekenntnis ihrer Wertschätzung für ihn sowie das überfällige Eingeständnis, dass sie die Reise ohne ihn unmöglich hätte machen können und wusste, dass er sie verstand.
Das war die Wahrheit, die Brynn an jenem warmen Nachmittag erkannte, als sie dort stand und den von Süden kommenden Wind in ihrem dunklen, seidenweichen Haar spürte. War sie am Tag ihrer erschreckenden Erkenntnis innerlich gewachsen, als sie hatte lernen müssen, was es hieß zu töten, dann traf dies ihrer Überzeugung nach noch viel stärker auf diesen Tag zu, den Tag ihrer zweiten Offenbarung und der zweiten Stufe ihres Reifungsprozesses auf dem Weg zu ihrer Bestimmung.
Ein guter Anführer kannte seine Feinde.
Und ein besserer kannte seine Verbündeten und wusste sie zu schätzen.
Ein Tag ging nahtlos in den nächsten über; dennoch bemerkte Brynn jedes Mal, wenn es morgens dämmerte, dass die Berge tatsächlich größer schienen, wenn auch nur ein winziges Stück. Sie versuchte, den Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen, denn mittlerweile hatte ihre innere Anspannung so zugenommen, als wären diese Berge nicht bloß die Markierung, die sie
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